Gestern Abend gegen 21:30 Uhr kam ein belgischer Reisecar im Tunnel Sierre/VS auf der A9 ins Schlingern, streifte die Tunnelwand und prallte frontal in eine Nothaltestelle. 28 Menschen verloren dabei ihr Leben, 24 weitere wurden mit teils schwersten Verletzungen in umliegende Spitäler gebracht.
Rückkehr aus dem Ferienlager
Die Schulklassen aus den Provinzen Brabant und Limburg im Teilstaat Flandern im Car waren auf dem Rückweg vom Skilager im Val d’Anniviers bei Sierre-Siders/VS nach Belgien im Tunnel zwischen den A9-Anschlüssen Sierre-Est und Sierre-Ouest in Fahrtrichtung Sion–Lausanne unterwegs, als der Bus aus noch ungeklärten Gründen zwischen 21:15 und 21:30 Uhr zunächst die Tunnelwand touchierte und anschliessend frontal in eine Rettungsnische prallte. Der Bus wurde unter der Wucht des Aufpralls regelrecht zusammengedrückt. Beim Unfall sind 28 Tote zu beklagen, darunter 22 Kinder im Alter von 11 bis 12 Jahren. Die restlichen 24 Personen, allesamt Kinder, wurden teils schwer verletzt. Zwei Personen mussten in die Universitätsklinik Lausanne (CHUV) überflogen werden, eine weitere ins Berner Inselspital. Insgesamt befanden sich 52 Personen an Bord des Reisecars. Bei den sechs erwachsenen Toten handelte es sich um die beiden Chauffeure sowie um die vier Begleitpersonen.
Die Rettungs- und Bergungsarbeiten dauerten die ganze Nacht, das Wrack des Busses wurde nach Visp/VS abgeschleppt. Die A9 bleibt zwischen Sierre-Est und Sierre-Ouest in Richtung Sion bis auf weiteres gesperrt. Einerseits sind die Ermittlungen vor Ort noch nicht abgeschlossen, andererseits wollen die Behörden den Angehörigen ermöglichen, den Unfallort besuchen zu können.
Kristenstab im belgischen Aussenministerium
Der belgische Staat hat aufgrund des Unglücks reagiert: Neo-Premierminister Elio Di Rupo kündigte an, während des heutigen Tages nach Sierre zu reisen. Zudem berief das belgische Aussenministerium eine Krisengruppe ein und teilte mit, dass die Angehörigen der Opfer im Beisein von Vertretern christlicher Hilfsorganisationen sowie des Aussen- und Verteidigungsministeriums mit einem bereitgestellten Airbus geflogen werden. Die Maschine hob um 14 Uhr in Belgien ab und landete um 16 Uhr in Genf-Cointrin, weitere Flüge mit kleineren Flugzeugen könnten auch auf dem Sittener Flughafen aufsetzen.
In Bern rief Nationalratspräsident Hansjörg Walter (SVP/TG) die National- und Ständeräte zu einer Gedenkminute auf. Zu einem späteren Zeitpunkt würde der belgischen Botschaft ein Kondolenzschreiben überreicht. Während Bundesrat Johann Schneider-Ammann (FDP) ein Statement abgab, trat Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP) in den Mittagsstunden die Reise nach Sierre an, zudem kondolierten der belgische König Albert II. und seine Gattin Paola den Angehörigen der Opfer auf dem Militärflugplatz Melsbroek, von dem aus die Maschinen nach Genf-Cointrin starten sollen. Auch EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, der wie die meisten der Opfer Flame ist, äusserte sich bestürzt über den Unfall und bedankte sich für den Einsatz der Walliser Rettungskräfte, genauso wie der portugiesische EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy.
Derweil bestätigte der niederländische Premier Mark Rutte, dass neun der 52 Passagieren an Bord niederländischer Staatsangehörigkeit gewesen seien. Bei den 28 Toten handelt es sich um 7 niederländischer Nationalität, 21 belgischer. Von den 24 Verletzten wurden inzwischen deren 22 identifiziert, 17 stammen aus Belgien, 3 aus den Niederlanden und je einer aus Polen und Deutschland. Das anfänglich verbreitete Gerücht, dass die beiden Busfahrer polnischer und deutscher Staatsangehörigkeit gewesen seien, wurde damit nicht bestätigt.
An einer in Sion einberufenen Pressekonferenz nahmen nebst Premierminister Di Rupo unter anderem auch Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf, der Walliser Regierungspräsident Jacques Melly und der kantonale Polizeikommandant Christian Varone teil. Letzterer gab bekannt, dass die Videoaufnahmen des Tunnels einer ersten Auswertung unterzogen wurde, die besagt, dass der Unfallbus weder zu schnell unterwegs war, noch wegen einer Flüssigkeit auf der Fahrbahn ins Schleudern geriet, noch dass ein anderes Fahrzeug in das Geschehen verwickelt war. Der verunglückte Car war Teil eines aus drei Bussen bestehenden Konvois, die anderen beiden bekamen vom Crash nichts mit und sind im Verlaufe des heutigen Tages wohlbehalten in Belgien eingetroffen.
Der Bischof von Sion, Norbert Brunner, kündete auf morgen abend, 19 Uhr, an, einen Gedenkgottesdienst gemeinsam mit anderen Geistlichen in der Siderser Pfarrkirche Sainte-Croix abzuhalten. Derweil hat Papst Benedikt XVI. dem Erzbischof der Diözese Mecheln-Brüssel, André-Joseph Léonard, seine Beileidsbekundungen zukommen lassen. Léonard hielt gestern in der Kirche von Löwen/BEL einen ersten Gedenkgottesdienst ab.
Der Bund hat eine Website aufgeschaltet, unter der es möglich ist, Kondolenzbekundungen niederzuschreiben.
Sicherheitsbedenken geäussert
Die Ursache der Kollision ist noch unklar, wobei nahezu ausgeschlossen werden kann, dass der Buschauffeur eingeschlafen sei, da die beiden für die Fahrt eingeteilten Fahrer die Vorschriften der Ruhezeit eingehalten haben – sie seien bereits am Vortag im Val d’Anniviers eingetroffen. Der verunglückte Bus sei in einem einwandfreien Zustand gewesen, zudem geniesse das zugehörige Busunternehmen Toptours einen exzellenten Ruf. Jedoch gibt es bereits Bedenken an der Sicherheit des 1999 eröffneten Autobahn-Doppeltunnels, der als Umfahrung von Sierre dient und Teil der A9 ist, die zurzeit noch in Sierre-Est endet, der Lückenschluss mit der ebenfalls als A9 bezeichneten Autostrasse Visp-Brig soll in drei Etappen bis 2019 erfolgen. Die Rettungsnischen ragen, wie in den Fotos von der Unfallstelle deutlich zu sehen, in einem Winkel von 90° in Richtung Fahrbahn, was dem belgischen Bus zum Verhängnis wurde. In Deutschland ist es seit 2003 ein Gebot, das Ende von solchen Nischen abgeschrägt im Verhältnis 1:3 anzulegen. Deswegen wurde von verschiedenen Automobilclubs Kritik am Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) geäussert, da alle Bauten hierzulande dessen Normen entsprechen müssen, dementsprechend sind auch die Notfallnischen in Sierre nach SIA-Normen gebaut worden. Der SIA liess verlauten, dass er sich gegen eine Änderung der Normen nicht verschliessen werde.
Ursache unklar
Konkret bekannt ist, dass sich der Reisecar um 20:45 Uhr vor dem Ferienheim der Kinder in Saint-Luc/VS im Val d’Anniviers in Bewegung setzte. Rund eine halbe Stunde später fuhr der Bus via Pfynwaldkreisel, welcher die Strasse zum Val d’Anniviers mit der Autobahn A9 verbindet, zur Auffahrt Sierre-Est, um gegen 21:15 in den 2.5 Kilometer langen Sierre-Tunnel einzufahren. Während der Fahrt touchierte der Bus offenbar den Randstein, um infolgedessen in die Rettungsnische geschleudert zu werden, wo der Car anschliessend mit etwa 50 km/h in die rechtwinkling zur Tunnelwand und zur Fahrbahn abstehende Betonwand prallte. Anfänglich wurde über erhöhte Geschwindigkeit spekuliert, was jedoch ausgeschlossen werden kann. In Frage kommen nun ein Defekt am Fahrzeug, ein plötzlich auftretendes gesundheitliches Problem des Fahrers, weswegen dessen Leiche einer Autopsie unterzogen wird oder menschliches Versagen. Unabhängig voneinander sollen einige der überlebenden Kindern ihren Angehörigen und dem Pflegepersonal erzählt haben, dass einer der Lehrer Sekunden vor dem Unfall mit einer CD oder DVD (das flämische Wort für Kassette ist ein Synonym für beide Datenträger) in Richtung Chauffeur gegangen sein.
Rund 20 Minuten nach dem Unfall war ein Grossaufgebot von Polizei, Feuerwehr und Sanität vor Ort, insgesamt waren acht Rettungshubschrauber der Air Zermatt, Air Glaciers und REGA im Einsatz.
Schwerstes Busunglück in der Schweiz seit 30 Jahren
Der Unfall ist das schwerste Busunglück der Schweiz seit 30 Jahren. 2005 stürzte auf der Passstrasse zum Grossen St. Bernhard südlich von Martigny/VS nahe Orsières in eine Schlucht– 13 Tote waren anno dazumal zu beklagen. Das schwerste Busunglück der Schweizer Geschichte ereignete sich am 12. September 1982, als bei Pfäffikon/ZH ein deutscher Reisebus auf einem Bahnübergang von einem Regionalzug erfasst wurde, wobei 39 Menschen in den Tod gerissen wurde, weil die Schranken aufgrund eines Missverständnisses wieder geöffnet wurden. Letztere Katastrophe markiert hierzulande gleichzeitig das schwerste Zugunglück in der Geschichte.
Mein Kommentar: Wie sind solche Schicksale zu erklären?
Zunächst mal möchte ich hervorheben, dass ich jetzt keinen Boulevard- und Frauenzeitschriften-Journalismus mit Floskeln wie Och die armen Kinder! oder Jesses Gott! starte, dafür sind andere zuständig, schon allein deshalb, weil ich über keine journalistische Ausbildung verfüge. Zudem sorgen auf die Emotionalität des Menschen ausgerichtete Berichte bei mir für Unmut, da sie für mich propagandistische Züge annehmen.
Wohlverstanden, ich finde das Unglück äusserst schlimm, doch wird mir mal wieder die Manipulationstechnik der Medien vor Augen geführt. Zweifellos findet man keine Worte zu diesem Unglück und kann sich noch weniger vorstellen, wie es ist, wenn das eigene Kind einer solchen Katastrophe zum Opfer fällt. Zudem redet jeder ausschliesslich von den Opfern, die Rettungskräfte, die vermutlich für den Rest ihres Lebens immer wieder von der gestrigen Nacht eingeholt werden, bleiben unerwähnt. Aber bei den Reisenden auf der Costa Concordia wird von unserer Gesellschaft just aus genau diesem Grund der seelischen Verfolgung der für mich ziemlich hohe Schadenersatz von 14’000 Euro gerechtfertigt und auch verteidigt. Für mich wäre der Anblick von dutzenden Leichen verheerender als ein schiefes Schiff.
Übrigens möchte ich mal wieder zum verbalen Rundumschlag ausholen:
Was machen wir jetzt? Wir leben unser Leben weiter. Die Frommen unter uns pilgern nächsten Sonntag wie jede Woche zur Kirche, wo unser verehrter Herr Pfarrer mit ausgebreiteten Armen am Altar steht und aus vollem Halse predigt, wie Gott es gut mit unseren Menschen meint und das alles so passiert, wie er das will und so für uns nur Gutes zur Folge haben wird. Dann wird die Hostie verteilt und alle bekreuzigen sich in Gedenken an den Mann, der ans Kreuz genagelt wurde und deshalb so ein armer Märtyrer ist, der sich natürlich für uns alle geopfert hat. Wie bitte schön erklärt man sich denn solche Unfälle, wo Unschuldige ums Leben kamen?
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Disput zwischen einem meiner Religionslehrer und meiner Wenigkeit, wo ich die Frage nach dem Sinn eines Unfalls, wo ein kleines Kind beim Spielen aus dem Fenster stürzt und stirbt, stellte und dementsprechend auch beantwortet haben wollte, nachdem der Religionslehrer mit voller Inbrunst ins Klassenzimmer posaunte, dass alles gottgewollt sei. Notabene kriegte ich keine Antwort auf meine Frage, die ich nun mit dem Unfall in Siders als Hintergrund wieder stelle. Kann sie mir dieses Mal jemand beantworten? Ich bezweifle es.
Nicht ausser Acht lassen dürfen wir die Rettungskräfte von REGA, Air Zermatt, Air Glaciers, Ambulanz, Feuerwehr und der Polizei, denn eine solche Bergungsarbeit ist überhaupt nicht einfach. Beim nächsten Mal sollten Preise wie die überdimensionierten Swiss Awards nicht an vermeintliche Unternehmer des Jahres oder andere Exponenten der Hochglanzpostillen gehen, sondern an solche, die tagtäglich schwierige Arbeit leisten und dennoch unterbezahlt sind. Zu diesem gehören Ambulanzfahrer oder REGA-Ärzte– sollte die Arbeit gar auf freiwilliger Basis basieren wie bei der Feuerwehr, dann ist diese noch einen Schritt höher zu beachten.
Größere Kartenansicht
Lage des Tunnels von Sierre, in dem sich der Unfall ereignete.
Videobeitrag der Nachrichtenagentur AFP
Tagesschau am Mittag vom 14. März, die sich fast ausschliesslich dem Busunglück von Sierre widmet.
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