Leserreporter: Pressefreiheit oder Blossstellung?

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Seit geraumer Zeit sind sie ein Bestandteil der Berichterstattung: Die Leserreporter, vorzugsweise in den Boulevardmedien aus den Häusern Ringier oder Tamedia zu finden. Die Konsequenz daraus: Man ist auf Schritt und Tritt verfolgt und man läuft Gefahr, bei jedem kleinen Missgeschick in den Medien zu landen. Man benötigt dazu nicht mal einen Prominentenstatus, das Wickeln eines Kindes im Zug reicht da vollkommen…
Leserreporter sind der neuste Schrei in der Medienwelt: Doch wo befindet sich die Grenze zur öffentlichen Blossstellung?

Blossstellung und Erniedrigung

Am Vormittag des 3. Februars 2020 prallte im Bahnhof Luzern ein IR70 Zürich HB–Luzern bei der Einfahrt in den Prellbock. Wohl noch bevor die Meldung die Alarmzentralen von Polizei und Rettungsdienst erreicht hatte, hatten erste Passanten ihr Smartphone hervorgekramt und ihre Bilder den Redaktionen vom 20 Minuten und Blick zukommen lassen. Was dazu führte, dass der Lokomotivführer des Zuges unzensiert und unverpixelt in der Bildergalerie besagter Newsmeldung zu sehen war. Das hat nichts mehr mit Information zu tun, sondern ist nichts Anderes als eine öffentliche Blossstellung. Quasi ein Freipass, Leute für jeglichen Fehler medial an den Pranger stellen zu können… Wann landen die ersten Fotos von falsch eingeräumten Migros-Gestellen in den Newsportalen?
Nicht zu vergessen: Bei dem Unfall wurden Personen verletzt, man stellt also auch die eigene Gier nach Aufmerksamkeit über das Wohl anderer Menschen.

Warum unternehmen die Medienhäuser nichts dagegen?

Es stellt sich die Frage, warum die Medienhäuser denn zulassen, dass Personen öffentlich blossgestellt werden? Ist es denn zu viel verlangt, solche Leserreporter-Beiträge vor der Veröffentlichung zu sichten? Fakt ist, mit der ausgesprochenen finanziellen Belohnung, welche dazu führt, dass man als Leserreporter faktisch Narrenfreiheit geniesst, leisten die Medienkonzerne der Welt einen Bärendienst: Die CHF 1000.- sind wohl verlockender, als bei einem Vorfall erste Hilfe zu leisten. Man nutzt die fortschreitende Dummheit unserer Gesellschaft wohl aus, wahrlich ein geschickter Schachzug.
Die Gesellschaft benötigt auch die Reduktion komplexer Sachverhalte auf einzelne Begriffe, weil sie wohl den kausalen Gesamtzusammenhang nicht mehr verstehen würde. Meinungsbildung auf tiefstem Niveau: Just deswegen sorgen Schlagworte wie Asylanten für Erfolg. Auch gestandene Medien sind auf diesen Zug aufgesprungen: Mit ihrem neuen Chefredakteur ist die eigentliche Institution der deutschsprachigen Pressewelt, die Neue Zürcher Zeitung, längst im Strudel des Rechtspopulismus gelandet, während das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), gerade im Beispiel des Luzerner Bahnunfalls, überspitzte Videointerviews von Zeugenaussagen, zeigt; eine Domäne, die noch vor wenigen Jahren ganz in der Hand von privaten TV-Sendern wie Tele Züri oder Newsportalen war.
Die Verhinderung der Komplexität ist auch dadurch erkennbar, dass mit dem Auftauchen des 2019-nCov-Virus in China – die Bezeichnung Corona-Virus ist übrigens falsch, da es ein übergeordneter Begriff ist – scheinen die Buschbrände in Australien medial gelöscht worden zu sein. Dabei brennt es dort munter weiter, es kümmert nun niemanden mehr, da man sich lieber damit befasst, Angst vor allen asiatisch aussehenden Mitbürgern zu haben, auch wenn diese weder aus China stammen, noch in letzter Zeit dort gewesen zu sein schienen.

Die Inszenierung am Netz – ein Zeichen von Narzissmus?

Die Selbstdarstellung im Internet ist seit gut eineinhalb Jahrzehnten ein fester Teil unserer Gesellschaft: Zuerst Netlog, danach MySpace und Facebook – und jetzt hat Instagram den Rang abgelaufen, um auch wieder von neuen, so genannten sozialen Netzwerken verdrängt zu werden, welche wahrheitsgetreuer eher als asoziale Netzwerke bezeichnet werden müssten.
Doch nun dringt ein neuer Trend der Inszenierung ins Internet: Man verdient Geld nicht mehr damit, die eigenen Brüste ins Netz zu stellen, sondern andere Menschen, ohne deren Wissen. Vor allem dann, wenn ihnen ein Fehler unterlaufen ist. Die Leserschaft giert nach solchen Geschichten, die Klickzahlen geben den Medienunternehmen Recht. Meinungsfreiheit? Pressefreiheit? Wohl eher Voyeurismus in seiner perversesten Form…

Wird die Presse nicht überwacht?

Presse- und Meinungsfreiheit ist oberstes Gut einer Demokratie, aber nicht selten werden die Begriffe missbraucht, sei es zum Aufzwingen der eigenen Meinung oder – wie in diesem Falle – zur Befriedigung der Sensationsgier. Der Schweizer Presserat, die medienethische Ombudsstelle, führt auf ihrer Website zwar einen Kodex, an den sich Journalisten halten müssen, doch besteht dieser aus dehnbaren Gummiparagraphen, so dass man sich die Wahrheit selbst zusammenzimmern darf. Privatsphäre ist zwar vorgeschrieben, doch gilt sie so lange, bis das Interesse der Öffentlichkeit die Aufhebung dieser verlangt. Sprich: Wenn die Sensationsneugier der Leserschaft einen gewissen Punkt erreicht, ist die Privatsphäre des Einzelnen keinen Pfifferling mehr wert. Rein formal ist es also möglich, jede Person unzensiert in einem Medienartikel dem Haifischbecken Öffentlichkeit preiszugeben. Und jeder so genannte Leserreporter ist Teil dieser Hetzjagd.

Links

  • Pflichten der Journalistinnen und Journalisten des Schweizer Presserats (PDF-Datei), abgerufen am 3. Februar 2020
  • Drei gute Gründe gegen LeserreporterBernet Blog vom 11. Juni 2012, abgerufen am 3. Februar 2020