Am 3. Juni 1998 um 10:57 entgleiste ein Triebzug der DB-Baureihe 401 als ICE 884 Wilhelm Conrad Röntgen auf dem Weg von München Hbf nach Hamburg-Altona im niedersächsischen Eschede, an der Bahnstrecke Hannover–Hamburg gelegen. 101 Menschen kamen dabei ums Leben, 88 weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Ursache des Unglücks war ein wegen Materialermüdung gelöster Radreifen, weswegen die Vernachlässigung der Wartung in den Fokus der Kritik gelangte. Das Prestigeprojekt der Deutschen Bahn, der ICE, erlitt einen herben Rückschlag, auch die Technologienation Deutschland musste mit einem herben Dämpfer umgehen. Die Diskussion um die Sicherheit bei der Deutschen Bahn wurde nach dem Unglück lanciert – und gipfelte in den Radsatzwellenbruch eines ICE 3 im Kölner Hauptbahnhof am 9. Juli 2008.
Schwerstes Unglück der Nachkriegsgeschichte
Punkt 5:45 setzte sich ICE 1-Triebzug 151 als ICE 884 Wilhelm Conrad Röntgen im Münchner Hauptbahnhof in Bewegung, um die Reise in den hohen Norden anzutreten. Sie führte über Nürnberg und die Schnellfahrstrecke Würzburg–Fulda–Hannover nach Hamburg-Altona. An Bord befanden sich zahlreiche Urlauber mit dem Ziel, an der Nord- oder der Ostsee Ferien zu machen.
Doch der Zug sollte sein Ziel niemals erreichen, die Fahrt endete im niedersächsischen Eschede.
6 Kilometer vor der Unglücksstelle wickelte sich der Radreifen ab, bohrte sich zwischen zwei Sitze in einem Abteil des Wagens 1 und riss ein Loch in den Fussboden. Die dort sitzenden Fahrgäste erschraken und suchten einen Zugbegleiter auf, den sie dann im dritten Wagen vorfanden. Nach eigenen Angaben fanden sie die Notbremse in ihrem Abteil nicht. Er sollte den Schaden niemals begutachten können.
Um 10:57 passierte der Zug die Einfahrweichen des Bahnhofs Eschede. Der gelöste Reifen riss bei der Durchfahrt den Radlenker ab, weshalb die ersten Drehgestelle aus den Schienen sprangen. Das erste Drehgestell des dritten Wagens riss die Weichenzunge ab und verstellte sie, so dass das hintere Drehgestell des dritten Wagens und alle darauffolgenden Achsen auf das Nebengleis geleitet wurden. Unmittelbar nach der Weiche folgte eine Strassenbrücke, auf dieser befand sich ein Auto von zwei Bahnmitarbeitern, die mit signaltechnischen Arbeiten beschäftigt waren. Der dritte Wagen riss aufgrund seines Ausscherens einen Pfeiler um und brachte die Brücke zum Einsturz. Aufgrund eines kurzen Schwebezustandes konnte der vierte Wagen relativ unbeschädigt unter der Brücke hindurchgegangen, rutschte danach aber eine Böschung hinunter. Teile des fünften und des sechsten Wagens wurden unter der einstürzenden Brücke begraben, dahinter wurde der restliche Zug an den Trümmern aufgefaltet. Der zweite Triebkopf stand quer auf den Gleisen, war aber nur gering beschädigt, und war auf die hinteren Wagen aufgefahren.
Der führende Triebkopf wurde erst mittels Rotsignal zwei Kilometer nach der Unfallstelle gestoppt, nachdem der Fahrdienstleiter die fehlenden Wagen bemerkt hatte. Der Lokführer gab an, bis auf einen plötzlichen Leistungsabfall wegen dem Abreissen der Bremsschläuche nichts vom Unglück bemerkt zu haben. Aus diesem Grund wurde auch die anfänglich geäusserte Theorie verworfen, dass das Auto der Bahnarbeiter von der Brücke gestürzt sei und eine Kollision die Entgleisung verursacht hatte.
Umgehend wurde in der Region Eschede/Celle Grossalarm ausgelöst. Die Rettungskräfte bargen 101 Todesopfer und 88 Verletzte. Die meisten der ums Leben Gekommenen waren aufgrund der schlagartigen Bremsung des Zuges von 200 auf 0 km/h, was einem ungebremsten Fall aus 160 Metern Höhe vergleichbar ist, sofort tot.
Aufgrund der einminütigen Verspätung des ICE 884 und der einminütigen Verfrühung des entgegenkommenden ICE 787 (Hamburg-Altona–München Hbf), die sich gemäss Fahrplan just bei der Brücke kreuzen müssten, wurde eine noch verheerendere Katastrophe verhindert.
Die Katastrophe von Eschede ist bis heute das schwerste Unglück der deutschen Nachkriegsgeschichte und das schlimmste Zugunglück im europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr. In diesem hat es mit der Entgleisung von Alvia 01455 bei Santiago de Compostela im Juli 2013 nur einen vergleichbar verheerenden Unfall gegeben.
Ein verschlafenes niedersächsisches Dorf – dessen Namen nun jeder kennt.
Beitrag aus der ZDF-Sendung hallo Deutschland vom 3. Juni 2013
Ursache Gummireifen
Bei der Lancierung der ICE 1 1991 wurden sie mit so genannten Vollrädern ausgestattet, die aus einem Stück gegossen wurden. Wegen unterschiedlicher Abnützungen wurden jedoch vor allem im Speisewagen erhebliche Erschütterungen ausgemacht, weswegen eine Lösung des Problems gesucht werden musste. DB-Manager entschieden sich für eine technische Neuentwicklung, wo der Radreifen mit einem 20 Millimeter dicken Gummireifen vom restlichen Rad getrennt wurde. Der Gummi sollte die Erschütterungen abfedern. Nach und nach wurden alle Zwischenwagen der ICE 1 ersetzt, die Triebköpfe behielten jedoch ihre Vollräder.
Die Wartungsmitarbeiter der DB, welche in der Nacht in der Standzeit der Züge die Räder kontrollieren, waren mit einer genauen Inspektion nicht vertraut. Die Probleme waren wie bei den Vollrädern nicht mehr am Kontaktpunkt Rad-Schiene zu finden, sondern im Bereich um den Gummireifen. Allfällige Risse im Übergang Radreifen/Gummi konnten bei den damals üblichen Überprüfungspraktiken nicht festgestellt werden. Die angewendete Ultraschallmessung ULM registrierte zwar eine hohe Fehlerdichte, jedoch wurde diese Messung im Werk als Fehlmessung bezeichnet, da ULM in dieser Hinsicht erfahrungsgemäss sehr unzuverlässige Resultate lieferte.
Gemäss Zeugenaussagen nach dem Unglück befanden sich im ICE-Werk München in der Nacht davor nicht wie üblich acht bis neun Triebzüge, sondern deren 12. Bereits danach entbrannte eine Diskussion über die Vernachlässigung der Wartung zugunsten der Wirtschaftlichkeit, eine Debatte, die nach dem Skandal um die Achsen der ICE-3 und ICE-T sowie der S-Bahn Berlin 2009 ihren Höhepunkt erreichte.
Kampf um Entschädigungen
Die Deutsche Bahn erlitt einen Imageverlust: Die ICE-Flotte bildete das Rückgrat des deutschen Fernverkehrs und galt als Stolz der deutschen Wirtschaft, an der Entwicklung waren bedeutende Unternehmen wie AEG, Krauss-Maffei, Siemens, Krupp oder Henschel beteiligt.
Als Reaktion auf das Unglück nahm die DB alle 59 verbliebenen ICE 1-Triebzüge ausser Betrieb, der Verkehr konnte mit Reduktionen dank einem Ersatzkonzept mit ICE 2 und IC-Ersatzzügen aufrecht erhalten werden. Es wurden wieder in alle Züge Monobloc-Räder eingebaut, das wahrnehmbare Brummen kehrte wieder zurück. Der Einbau von luftgefederten Drehgestellen scheiterte an den Kosten.
Anschliessend folgten mehrere Gerichtsverfahren gegen die Deutsche Bahn. Die angebotenen Entschädigungen in der Höhe von 30’000 DM pro Todesopfer empfinden die Angehörigen der Opfer und die Verletzten bis heute als Hohn, trotzdem konnten Zivilprozesse zwischen ihnen und der DB stets verhindert werden. Aussgerichtliche Einigungen brachten Entschädigungen von bis zu 550’000 DM pro Todesopfer.
In Gedenken an die Opfer wurde an der Unglücksstelle am 11. Mai 2001 eine Gedenkstätte eingeweiht, nebst der Gedenktafel wurden 101 Kirschbäume gepflanzt.
Die Strecke wurde sechs Tage nach dem Unglück wieder für den Verkehr freigegeben, als erster Zug passierte der InterRegio 2577 von Hamburg–Altona nach Karlsruhe die Unglücksstelle. Als Baumassnahmen wurden unter anderem neue Fahrleitungsmasten errichtet, neue Weichen eingebaut und der Fahrdraht neu gezogen.
Am 15. Jahrestag des Unglücks, dem 3. Juni 2013, wurde mit Rüdiger Grube erstmals ein amtierender Bahnchef zur Gedenkfeier beim Denkmal eingeladen. Er entschuldigte sich im Namen der Deutschen Bahn offiziell bei den Opfern für die Katastrophe.
Die betroffene Linie und der Unglückszug heute
ICE 884 war Teil der ICE-Linie München Hbf–Hamburg-Altona, welche der heutigen ICE-Linie 25 entspricht, die im Gegenzug zu damals wegen der Schnellfahrstrecke Nürnberg–München teilweise via Ingolstadt statt Augsburg verkehrt. Der Unglückstriebzug war ein ICE 1, heute wird die Linie zusätzlich mit ICE 2 und ICE-T betrieben, weil zweistündlich ab Hannover ein Zugteil nach Bremen verkehrt.
Die Nummer 884 wurde ähnlich wie in der Luftfahrt nach schweren Flugzeugunglücken nicht mehr vergeben, ebenfalls entfiel der Name Wilhelm Conrad Röntgen. Heute verkehren die ICE ohnehin weitgehend ohne Namen. Heute verkehrt in identischer Fahrplanlage ICE 886 von München nach Hamburg-Altona, jedoch wegen der Führung via Ingolstadt mit einer um 30 Minuten späterer Abfahrtszeit in München.
Der führende Triebkopf, 401 051-8, blieb beim Unfall weitestgehend unbeschädigt und ist bis heute im Regeleinsatz. Aus den Überresten des zweiten Triebkopfes, 401 551-7, und aus Überresten zweier weiterer bei einem Brand in Offenbach am Main und bei einer Kollision mit zwei Re 465 der BLS in Thun/BE beschädigten Triebköpfe wurde ein neuer gebaut. Der erste Wagen, in dem der Reifen abgewickelt wurde, war bis 2005 durch die Behörden beschlagnahmt und diente danach als Kulisse für Dokumentarfilme sowie zu Ausbildungszwecken an der THW-Bundesschule in Hoya (Niedersachsen). Die restlichen Wagen wurden beim Unfall nahezu zerstört und wurden nach Abschluss der Justizverfahren dem Schrottplatz zugeführt.
Die Radsatzwellen-Affäre der ICE 3 weckte ungute Erinnerungen
Am 9. Juli 2008 brach beim ICE 3 403 310, der als ICE 518 von München nach Dortmund unterwegs war, im Kölner Hauptbahnhof die Radsatzwelle. Alle Züge dieses Typs und der verwandten Konstruktion der ICE-T mussten danach auf Geheiss des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) überprüft werden, zahlreiche Leistungen vor allem via die Schnellfahrstrecke Rhein–Main (KRM), auf der wegen den starken Steigungen bis 40 Promille und der notwendigen Wirbelstrombremse nur ICE 3 zugelassen sind, mussten ersetzt und die Umläufe optimiert werden. Die Achsen wurden vor allem beim Bremsvorgang stark belastet. Durch den Achsbruch, der bei den auf der KRM erreichten 300 km/h äusserst verheerend gewesen wäre, wurden Rufe wegen Sicherheitsmängel bei der Deutschen Bahn laut, weswegen das EBA vorstellig wurde. Die neuen Radsatzwellen sind seit Anfang 2013 fertig produziert, der Einbau soll ab 2014 stattfinden, jedoch verlangt das EBA eine Neuzulassung aller Triebzüge nach dem Einbau der neuen Achsen.
ICE 3-Züge verkehren auf allen Leistungen, die via KRM führen, so beispielsweise Essen Hbf/Dortmund Hbf–München Hbf, (Hannover Hbf–/Amsterdam CS–/Dortmund Hbf–) Köln Hbf–Basel SBB, Bruxelles Midi–Frankfurt Hbf, aber auch zwischen Frankfurt Hbf und Paris Est via LGV Est. Für den innerdeutschen Verkehr (sowie nach Basel SBB in der Schweiz) werden ICE 3-Züge der DB-Baureihe 403 eingesetzt, mit technischen Komponenten für den Verkehr nach Belgien, die Niederlande oder Frankreich ausgerüstete Züge laufen unter der Bezeichnung 406, wobei es dort wiederum Unterschiede gibt: ICE 3M dürfen nur nach Belgien und die Niederlande, 3MF zusätzlich nach Frankreich. Vier der zehn ICE 3M befinden sich in Besitz der niederländischen Staatsbahnen NS.
Seit Jahren ist die Ergänzung der ICE 3-Flotte durch 16 Züge der DB-Baureihe 407 (Siemens Velaro D) geplant, eine fahrplanmässige Inbetriebssetzung scheiterte bislang an der fehlenden Zulassung für den Verkehr in Doppeltraktionen durch das EBA, die nun am 21. Dezember 2013 vorerst für vier Züge erfolgt ist, während sich die internationale Zulassung jedoch wohl bis 2016 hinziehen wird. Die vier zugelassenen Velaros werden zunächst zwischen Köln und Stuttgart eingesetzt.
Beitrag von 10vor10 des Schweizer Fernsehens vom 15. August 2008 zum Achsendebakel der Deutschen Bahn bei den ICE 3
Bericht der Tagesschau am Mittag des Schweizer Fernsehens vom 11. Juli 2008 über die notwendigen Sicherheitstests der ICE 3 nach dem Achsbruch in Köln und die Folgen der Reisenden ab Basel SBB
Bericht der Tagesschau am 11. Juli 2008 über die Folgen des ICE 3-Radsatzwellenbruchs in Köln
Die ICE-Flotte
Nebst den 60 Zügen des Typs ICE 1 (DB-Baureihe 401) bestand sie zum Unglückszeitpunkt noch aus 44 Zügen des Typs ICE 2 (DB-Baureihe 402), die in ihrer Halbzugform mit einem Triebkopf und einem Steuerwagen ideal für Flügelzugkonzepte sind, wie sie heute auf den Strecken Berlin–NRW und München–Hamburg/Bremen angewendet werden. In den letzten Jahren gesellten sich noch die auf die Schnellfahrstrecke Rhein/Main zugeschnittenen ICE 3 (DB-Baureihe 403 und 406), die (ehemals) neigezugfähigen ICE-T in zwei Versionen mit sieben (DB-Baureihe 411) beziehungsweise fünf Wagen (DB-Baureihe 415) und die dieselelektrischen ICE-TD (DB-Baureihe 605). Ab Dezember 2013 erweiterten noch Züge des Typs Siemens Velaro als DB-Baureihe 407 die ICE-Flotte. Für die Schweiz sind 19 ICE 1 zugelassen, sie verkehren auf den ICE-Linien Kiel/Hamburg-Altona–Zürich HB und Berlin Ostbahnhof/Berlin Gesundbrunnen–Interlaken Ost. Ab 2020 ist die Ausmusterung der heute bereits störungsanfälligen ICE 1 geplant, sie sollen wie die ICE 2 2025 und die InterCity-Wagen durch die von Siemens entwickelte Fahrzeuggeneration ICx ersetzt werden. Die Langläufer in die Schweiz sollen Gerüchten zufolge bereits Ende 2017 auf ICx umgestellt weden.
Dokumentarfilme
Anlässlich des zehnten Jahrestags des ICE-Unglücks von Eschede wurden fürs Fernsehen zwei Dokumentarfilme gedreht: