Es war der Abend des 24. Juli 2013, die nordwestspanische Pilgerstadt Santiago de Compostela bereitete sich auf die Feierlichkeiten zu Ehren ihres Schutzpatrons, des hl. Jakob vor, als gegen 20:42 im Vorort Angrois der Alvia 01455 auf dem Weg von Madrid Chamartín nach Ferrol aus den Schienen sprang. Mindestens 78 Menschen kamen ums Leben, rund 140 weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Spanien steht still – und man stellt sich – wieder einmal – die Frage nach der Ursache. Leider spielen hier die Medien eine grosse Rolle – selbst wenn die Unschuld des Triebfahrzeugführers bewiesen werden kann, sein Leben ist ruiniert.
Massiv überhöhte Geschwindigkeit als Ursache
Das Video einer Überwachungskamera zeigt, wie der Zug mit massiv überhöhter Geschwindigkeit in die Kurve brauste und entgleiste. Einige der Waggons wurden an die Stützmauer des Bahneinschnitts gedrückt und zerquetscht, einer gar über die Mauer katapultiert. Gemäss Angaben des Lokomotivführers Francisco Garzón Amo war der Zug mit einer Geschwindigkeit von 190 km/h unterwegs, während in der Kurve A Grandeira nur 80 km/h zugelassen waren. Die Unglücksstelle liegt an der Einfädelung der 2011 eröffneten Schnellfahrstrecke Santiago de Compostela-Ourense in die Altstrecke in einer scharfen Linkskurve. Eine geradlinige Linienführung der Schnellfahrstrecke in den Bahnhof Santiagos hinein war wegen der dichten Bebauung beidseits des Trassees nur unter langwierigen Enteignungsprozessen möglich gewesen, was wiederum mit hohen Kosten verbunden gewesen wäre. Entgegen ersten Plänen wurde die Neubaustrecke in iberischer Breitspur (1668 mm) gebaut, statt in europäischer Normalspur (1435 mm).
Wieso war der Zug zu schnell unterwegs?
Untersuchungen gehen davon aus, dass entweder technisches oder menschliches Versagen vorliegt.
In Spanien existieren zwei Zugsicherungssysteme. Auf den normalspurigen Schnellfahrstrecken, die seit 1992 im ganzen Land errichtet werden, ist der europäische Standard ETCS (European Train Control System, nicht zu verwechseln mit den ECTS-Punkten, denen seit der Bologna-Reform alle Hochschulstudenten nachrennen) installiert, den man in der Schweiz unter anderem auf der Neubaustrecke Mattstetten-Rothrist (Level 2), der Ausbaustrecke Solothurn-Wanzwil (Level 2) und im Lötschberg-Basistunnel (Level 2) findet. Als erste Altstrecke wird ab 2015 die Linie Brunnen-Rynächt auf der Gotthardbahn umgerüstet. ETCS ist insbesondere für Schnellfahrstrecken geeignet und macht Signale überflüssig, die notwendigen Angaben werden stattdessen per GSM-Netz zwischen den Streckenblöcken und dem Führerstand synchronisiert. Wäre die betroffene Strecke wie die anschliessende Schnellfahrstrecke mit ETCS ausgerüstet gewesen, hätte eine automatische Abbremsung die Geschwindigkeit des Zuges gesenkt.
Stattdessen ist die Unfallstelle mit dem herkömmlichen spanischen Zugbeeinflussungssystem ASFA ausgerüstet, wie sie überall auf dem breitspurigen Bestandesnetz anzutreffen ist. Die ASFA verfügt über keine automatische Geschwindigkeitenregulierung, ähnlich wie das Schweizer System Integra-Signum, welches nach einigen Unglücken mit dem Schnellbremsungen auslösenden ZUB ergänzt wird.
Bericht in der Tagesschau von SRF vom 25. Juli 2013
Einschätzungen von SRF-Sondekorrespondent Marcel Anderwerth aus Santiago de Compostela in der Tagesschau vom 25. Juli 2013
Mit 190 km/h in die Kurve – 10vor10 vom 25. Juli 2013
Nicht anzunehmen ist das in den Medien auftretende Gerücht, der Zug habe eine Verspätung aufholen wollen und sei deshalb mit hohem Tempo in die Kurve gefahren. Planmässige Ankunftszeit von Alvia 01455 in Santiago de Compostela wäre um 20:41 gewesen, der Zug verkehrte insgesamt mit einer Verspätung von rund fünf Minuten. Dieser Zeitrahmen liegt im Bereich des Pünktlichen. Möglich erscheint, dass der Lokomotivführer die Geschwindigkeitsbegrenzung übersehen hatte, weil er zuvor wegen ETCS kaum Arbeiten ausführen musste und deshalb die Aufmerksamkeit nicht gefordert wird, und danach seine Reaktionszeit zu langsam war, um eine Schnellbremsung auszulösen. Jedoch liegt man falsch, wenn man den Triebfahrzeugführer vorverurteilt, einerseits könnte auch ein technischer Defekt am Zug Auslöser gewesen sein (renfe schloss zwar einen solchen aus, was aber auch aus Marketinggründen gewesen sein kann), andererseits hätte man solch eine neuralgische Stelle ebenfalls mit ETCS ausrüsten müssen. Zudem ist das Signal samt Balise, welche die Reduktion anzeigt, viel zu nahe der Kurve gelegen, so dass der Lokomotivführer ohnehin kaum eine reale Chance für eine Schnellbremsung hatte.
Die aktuelle mediale Hetzjagd auf den Triebfahrzeugführer des Alvia 01455 ist absolut niveaulos, aber nicht verwunderlich bei diesem Boulevardniveau der heutigen Medien, aber wie bei solchen Ereignissen üblich, braucht es einen Schuldigen, an dem man die ganze Wut rauslassen kann. Vielleicht sollte man eher beim spanischen Verkehrsministerium nachfragen, wieso keine lückenlose Ausrüstung mit ETCS geplant ist, man aber dafür für jeden Kuhfladen auf der Landkarte eine eigene Hochgeschwindigkeitsstrecke, eine eigene Autobahn und mindestens sieben Flughäfen baut, die dann aus Kostengründen eh als Bauruine in der Pampa vor sich hin rotten.
In Spanien obliegt das Schienennetz der staatlichen Infrastrukturbehörde adif, welche es im Zuge der von der EU verordneten Liberalisierung des Schienenverkehrsmarktes von der renfe übernommen hatte.
Der Lokomotivführer, der beim Unfall leichte Verletzungen erlitten hatte, wurde im Krankenhaus unter Polizeigewahrsam gestellt.
Bericht der Tagesschau von SRF vom 26. Juli 2013, unter anderem über die Festnahme des Lokführers
Der spanische Hochgeschwindigkeitsverkehr
Seit der Weltausstellung 1992 in Sevilla baut Spanien sein Hochgeschwindigkeitsnetz rapide aus. Im Gegensatz zum breitspurigen und mit Gleichstrom elektrifizierten Bestandesnetz werden die Schnellfahrstrecken in europäischer Normalspur gebaut und mit Wechselstrom elektrifiziert. Nachdem 2010 die grenzüberschreitende Linea Alta Velocidad (LAV) Perpignan-Figueres Vilafant dem Verkehr übergeben wurde, können seit dem im Januar 2013 erfolgten Lückenschluss Barcelona-Figueres erstmals französische TGV nach Spanien und spanische AVE nach Frankreich. Dementsprechende Angebote sind ab Dezember geplant, auch ein TGV Genf-Barcelona steht zur Debatte. Heute besitzt Spanien das längste Hochgeschwindigkeitsnetz Europas, der Pionier Frankreich wurde längst abgehängt.
Schnellfahrstrecken existieren unter anderem von Madrid Chamartín nach Valladolid Campo Grande, von Madrid Atocha nach Barcelona Sants, Valencia Joaquin Sorolla und Sevilla Santa Justa sowie Querverbindungen und Äste beispielsweise nach Toledo oder Málaga Maria Zambrano. Als jüngstes Beispiel wurde Alicante durch einen Ast der LAV Levante ans Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen.
Ausschliesslich auf den normalspurigen Strecken verkehrende Züge werden unter dem Namen AVE geführt, als Rollmaterial verkehren unter anderem Velaro E oder Talgo 350.
Für Ziele, die noch nicht an einer LAV liegen, werden Züge unter dem Markennamen Alvia geführt, sie verfügen über umspurbare Drehgestellte und können sowohl mit Gleich-, als auch mit Wechselstrom betrieben werden, die vom Unfall betroffene Baureihe 730 ist sogar noch mit einem Dieselantrieb ausgerüstet, damit Ziele erschlossen werden können, die an einer unelektrifizierten Bahnstrecke liegen.
Für den rein breitspurigen Hochgeschwindigkeitsverkehr mit 220 km/h dienen die beiden Zugskategorien Euromed und Alaris; Euromed werden mit Zügen der Baureihe 130 gefahren, Alaris mit der Baureihe 490, welche wie die CP-Baureihe 4000, die CD-Baureihe 680 oder die SBB ETR 470 auf dem Pendolino-Konzept der Trenitalia basieren. Sowohl Alaris als auch Euromed sind an der Mittelmeerküste zwischen Alicante Terminal und Barcelona-Sants im Einsatz, Alaris zudem auch auf Madrid Atocha-Valencia Norte-Castellòn.
RENFE-Baureihe 730
Der aus Galicien stammende frühere spanische Verkehrsminister der Regierung Zapatero, José Blanco Lopez, wollte eine schnelle Anbindung seiner Region ans spanische Hochgeschwindigkeitsnetz und veranlasste, dass der Hersteller Patentes Talgo Hybridzüge baue, welche auch auf nicht elektrifizierten Strecken verkehren können. Ein Konsortium, bestehend aus Patentes Talgo und dem kanadischen Flugzeug- und Schienenfahrzeughersteller Bombardier, beschloss dann den Umbau von 15 bestehenden umspurbaren Zügen der von ihnen hergestellten Züge der RENFE-Baureihe 130, die vom Hersteller als Talgo 250 bezeichnet werden. Beim Unfall in Santiago war der Zug 730 032 betroffen.
Die Baureihe 730 besteht aus zwei Triebköpfen, zwei Dieselmotorwagen hinter den Triebköpfen und acht Zwischenwagen, ist also kein Triebzug im eigentlichen Sinn, sondern eine Sandwichbespannung, ähnlich wie der italienische ETR 500, der französische TGV oder der deutsche ICE 1.
renfe-intern wird der Zug als Baureihe 730 geführt, von Herstellerseite wird er als Talgo 250 Dual oder Talgo 250 Hibrido bezeichnet.
Nebst der Verbindung Madrid-Galicien kommen die Züge auch auf der Relation Madrid-Murcia zum Einsatz.
Patentes Talgo
Im Konkurrenzkampf mit Rivale CAF ist Patentes Talgo einer der führenden spanischen Hersteller für Schienenverkehrsfahrzeuge. Seine Produkte werden unter dem Markennamen Talgo auf den Markt gebracht, Hauptabnehmer ist die staatliche spanische Bahngesellschaft renfe. Ausserhalb Spaniens wurden unter anderem Züge an die Deutsche Bahn verkauft, wo sie mittlerweile aber ausgemustert sind. Bis Dezember 2012 fuhr das renfe/SNCF-Joint-Venture ellipsos dreimal wöchentlich mit dem Hotelzug Pau Casals Barcelona França-Zürich HB in die Schweiz.
Speziell ist der Aufbau der Zwischenwagen des Gliederzugs, sie umfassen an einem Ende ein Laufwerk mit den Achsen und Rädern, liegen am anderen Wagenende bereits auf dem Laufwerk des nächsten Wagens auf, ähnlich wie bei einem Sattelschlepper. Damit unterscheiden sie sich von den unter anderem bei den TGV oder den Stadler Flirts anzutreffenden Jacobs-Drehgestellen, die ebenfalls zwei Wagen verbinden.
Aktuelle Produktelinie ist der Talgo AVRIL, der auf dem bisherigen Premiumprodukt Talgo 350 basiert. Zur Zeit liegt jedoch keine Serienbestellung für den AVRIL vor. Mit der Triebzugversion – der Antrieb wäre über mehrere Wagen verteilt – des AVRIL hat sich Patentes Talgo an der Ausschreibung für die 29 neuen EuroCity-Züge der SBB beteiligt, bei einem Zuschlag wäre das der erste Fernverkehrstriebzug aus dem Hause Patentes Talgo.
Erinnerungen an Eschede werden wach
Der Bahnunfall von Santiago de Compostela weckt Erinnerungen an das Eisenbahnunglück im niedersächsischen Eschede, als am 3. Juni 1998 ICE 1-Triebzug 401 151 als ICE 884 Wilhelm Conrad Röntgen auf dem Weg von München nach Hamburg-Altona entgleiste, nachdem sich ein gummibereifter Radsatz gelöst hatte und in der Einfahrweiche des Bahnhofs Eschede Räder aus den Schienen springen liess, welche die Weichenzunge der zweiten Weiche änderte, so dass der Zug ganz entgleiste und eine Brücke zum Einsturz brachte. Damals verloren 101 Menschen ihr Leben.
Hinter Eschede ist Santiago de Compostela das zweitschlimmste Unglück im europäischen Hochgeschwindigkeitsverkehr und das erste in Spanien auf normalspurigen Strecken überhaupt. Am 24. Juni 2010 erfasste Alaris 01202 Alicante Terminal-Barcelona-Sants im Bahnhof Platja del Castelldefels (Katalonien) eine Menschengruppe, welche die Gleise überquerte statt die Unterführung zu benutzen. Damals starben 24 Personen.
In Spaniens Geschichte ist es hinter dem Unglück von Torre del Bierzo, als ein Nachtzug Madrid-La Coruña, ein Rangierzug und ein Güterzug zusammenstiessen. Damals wurde offiziell vom Franco-Regime eine Totenzahl von 78 kommuniziert, in Tat und Wahrheit dürften es zwischen 250 und 500 gewesen sein.
Falsch ist jedoch die Frage nach der Sicherheit, die Bahn ist weiterhin auch das sicherste Verkehrsmittel: Spanien liegt mit 0.22 Unfällen pro einer Million Zugskilometer noch vor der Schweiz mit 0.326.