Was bei uns in der Schweiz gang und gäbe ist, grenzt in Deutschland an eine Seltenheit: Eine Volksabstimmung. Meistens werden die Angelegenheiten im Bundestag oder Landtag bearbeitet und gelten dann, sofern der Bundespräsident auf Bundesebene sein Einverständnis gibt. Zu einer Volksabstimmung kann es kommen, wenn mehr als ein Drittel der Abgeordneten ein Referendum beantragt. Darum blicken heute viele Augenpaare gebannt nach Stuttgart, wo die Stimmbevölkerung von Baden-Württemberg über die Beteiligung des Bundeslandes am Milliardenprojekt Stuttgart 21 entscheiden wird.
Abstimmung über Beteiligung
Die Stimmbürger in Baden-Württemberg entscheiden nicht über das Projekt an sich, sondern über einen Kündigungsvertrag, sprich: das Bundesland kann nach einer Annahme seine Kostenbeteiligung von 824 Millionen Euro am Projekt Stuttgart 21 zurückziehen. Die Last müssten dann die Deutsche Bahn, der Bund und die Stadt Stuttgart selbst tragen, ob dann die milliardenteure Idee trotzdem umgesetzt wird, steht in den Sternen. Zur Abstimmung kommt es, weil mehr als ein Drittel der Abgeordneten des BW-Landtags das Referendum gegen die Landtagsabstimmung über die Beteiligung ergriffen haben: Eine Mehrheit von SPD, CDU und FDP hat sich gegen eine Kündigung der S21-Finanzierungsverträge ausgesprochen. Es wird also nur über eine allfällige Kündigung abgestimmt und nicht direkt über den geplanten Tiefbahnhof. Ausgeklammert wurde auch die geplante Schnellfahrstrecke von Stuttgart nach Ulm, sie wird auch von den S21-Gegnern getragen.
Die Fragestellung ist kompliziert (Wer ja stimmt, ist gegen Stuttgart 21, wer nein stimmt, dafür) , genauso auch das Abstimmungsprozedere: Nicht nur muss eine Mehrheit der Urnengänger das Referendum annehmen, sondern mindestens zwei Drittel aller Stimmberechtigten, also rund 2,5 Millionen Menschen, müssten für den Ausstieg stimmen, damit die das Gesätz rechtskräftig wird. Gehen also beispielsweise nur 2 Millionen Menschen an die Urne, wäre das Referendum durchgefallen, auch wenn alle für eine Kündigung gestimmt hätten.
Es ist erst die zweite Volksabstimmung in der Geschichte des drittgrössten deutschen Bundeslandes, das 1952 aus der Vereinigung der drei Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern entstanden ist. Bei der ersten wurde über die Fusion der Länder 1951 abgestimmt. Sie hat in Stuttgart selbst mit 47,8% eine hohe Stimmbeteiligung erreichen können, während in anderen Regionen das Interesse ungleich tiefer liegt. Ebenfalls strömten in Ulm viele Menschen an die Urnen, denn für die Stadt bieten Stuttgart 21 und die Schnellfahrstrecke eine markant bessere Anbindung an den Stuttgarter Flughafen, und Bahnchef Rüdiger Grube hat das Projekt der Hochgeschwindigkeitsstrecke für unsicher erklärt, sollte Stuttgart 21 scheitern.
Das umstrittene Projekt Stuttgart 21
Stuttgart 21 ist stark umstritten, Massenproteste im Herbst 2010 wurden von der Polizei niedergeschlagen, wobei hunderte von Verletzten zu beklagen waren. Politisch wird das Projekt von CDU, FDP und der SPD mehrheitlich unterstützt, die Grünen sind dagegen. Mit der Wahl des Grünen Winfried Kretschmann zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten – Kanzlerin Merkel (CDU) hatte die verlorene Landtagswahl als Abstimmung über Stuttgart 21 bezeichnet – erhielten die Gegner Aufwind. Stuttgart 21 spaltete auch die Koaltionspartner Grüne und SPD: Erstere sind ja bekanntlich dagegen, während letztere das Projekt befürworten.
Detailliert besteht das Projekt Stuttgart 21 aus einer Umwandlung des bisherigen Kopfbahnhofes in einen um 90° gedrehten unterirdischen Durchgangsbahnhof. Das bisherige denkmalgeschützte Empfangsgebäude von Paul Bonatz soll mit gestutzten Flügeln erhalten bleiben, doch der Abriss des Nordflügels hat die Proteste erst ausgelöst. Dazu soll rund um Stuttgart ein meist unterirdischer Eisenbahnring entstehen, so dass Zufahrten aus alle Richtungen und dementsprechend auch die Abfahrten möglich wären. Der unterirdische Durchgangsbahnhof soll acht Gleise an vier Mittelbahnsteigen beinhalten und sowohl dem Fern- als auch dem Regionalverkehr dienen. Die S-Bahn soll in bisheriger Form weiterlaufen, sie besitzt mit ihrem Innenstadttunnel bereits einen unterirdischen Haltepunkt am Hauptbahnhof. Jedoch soll die Stammstrecke verlängert werden und unter dem heutigen Gleisfeld, das städtebaulichen Nutzungen zugesprochen wird, einen weiteren Haltepunkt namens Mittnachtstrasse erhalten. Ebenfalls sollen die Vorortbahnhöfe Bad Cannstatt und Feuerbach mit einer Spange direkt verbunden werden.
Entstanden ist die Idee zu Stuttgart 21 im Zuge der Idee zu einer Schnellfahrstrecke von Wendlingen, südöstlich von Stuttgart gelegen, nach Ulm, welche der Achse Stuttgart-München dienen soll. Dieses Projekt ist wegen seinen Kosten und einigen Naturschützern ebenfalls ein wenig umstritten, doch richtige Gegner gibt es nicht. Um die Natur möglichst wenig zu belasten, wird sie grösstenteils entlang der bereits bestehenden Autobahn A8 gebaut. Integriert in Stuttgart 21 ist auch die Anbindung der Schnellfahrstrecke an den neuen Bahnhof, sie soll über einen neuen so genannten Filderbahnhof am Flughafen und der Messe in Leinfelden-Echterdingen führen. Dort würden auch die Züge der Gäubahn aus Zürich und Singen (Hohentwiel) den Weg zum neuen Stuttgarter Hauptbahnhof finden, für diese Züge soll eine Verbindungskurve in Rohr gebaut werden. Der innenstädtische Teil der Gäubahn würde danach abgebrochen werden, die frei werdenden Gleisflächen von etwa 100 Hektaren sollen mit einem neuen Stadtteil bebaut werden.
Umstritten ist das Projekt aufgrund mehrerer Faktoren: Einerseits die horrenden Kosten von S21 und Schnellfahrstrecke (12 Milliarden Euro – anfänglich budgetiert und in den Finanzierungsverträgen festgehalten sind 4,526 Milliarden), und auch aus Gründen des Natur- und Denkmalschutz. Dem Bau müssen im benachbarten Schlossgarten alte Bäume weichen, während der Bonatz-Bau des Hauptbahnhofs verkleinert wird.
Nebst den Schnellfahrstrecken Leipzig/Halle-Erfurt und Erfurt-Nürnberg ist Stuttgart 21 zurzeit das grösste Bauprojekt im Bereich der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland.
Visualisierung des Projekts Stuttgart 21
Schlichter Geissler mit Alternativvorschlag
Der von Kretschmanns Vorgänger Stefan Mappus (CDU) eingesetzte Konfliktschlichter Heiner Geissler hat nach Gesprächen mit Befürwortern und Gegnern das Projekt einem Stresstest durch die Schweizer Verkehrsplaner SMA unterzogen, welche dem geplanten Tiefbahnhof ein positives Ergebnis attestiert. Dieses Resultat sorgte bei S21-Gegnern für einen Aufschrei der Entrüstung, woraufhin Geissler und SMA sowohl Gegner als auch Befürworter mit einem Kompromissvorschlag überraschten. Der Tiefbahnhof soll in reduzierter Form (nur vier Gleise) gebaut werden, dafür würde der Kopfbahnhof behalten, ebenfalls in reduzierter Gleisanzahl (10 oder 12) gegenüber heute. Der Tiefbahnhof soll dem durchgehenden Fernverkehr in West-Ost-Richtung (Mannheim-Stuttgart-München), sowie regionalen Schnellverbindungen der Relationen Ulm-Würzburg, Heidelberg-Tübingen und Karlsruhe-Tübingen dienen, während der Kopfbahnhof als Regionalverkehrsknoten beibehalten würde. Zudem würden alle in Stuttgart aus Norden endenden Fernverkehrszüge sowie die Züge aus Zürich und Nürnberg den Kopfbahnhof anfahren, die Gäubahn würde bestehen bleiben. Die Situation wäre somit mit Zürich vergleichbar, wo nach Vollendung des Durchgansbahnhofs Löwenstrasse ebenfalls ein oberirdischer Kopfbahnhof und zwei unterirdische Durchgangsbahnhöfe den Hauptbahnhof bilnden. Ebenfalls würde auf den Stadtring verzichtet, über die Anbindung des Flughafens an die Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm existieren vier von Geissler und SMA ausgearbeitete Varianten. Jedoch lehnen sowohl die Bahn als auch die Landesregierung den Kompromissvorschlag ab.
SF Tagesschau-Bericht zu Geisslers Kompromissidee
Meine Meinung
Ich möchte abschliessend meine Meinung zum Thema Stuttgart 21 kundtun: Da ich der schwäbischen Metropole doch schon einige Besuche abgestattet hatte, verfolge ich das Projekt Stuttgart 21 mit grossem Interesse. Für mich ist die Wichtigkeit des Bahnhofs zu tief, um die hohen Kosten zu rechtfertigen. Die gross herumposaunte Magistrale Paris-Bratislava wird international betrachtet nur halb so wichtig sein, wie beteuert wird. Es werden niemals TGV-Züge über die gesamte Linie verkehren, denn das wäre wirtschaftlich gesehen absoluter Nonsense. Es ist auch traurig mit anzusehen, wie sich der deutsche Staat für solch ein Projekt stark macht, parallel dazu aber trotz Staatsvertägen die NEAT-Zulaufstrecken im Rheintal nicht pünktlich zur Eröffnung des Gotthard-Basistunnels 2016 fertigstellen kann. Von dem ewigen Mobbing von Baden-Württemberg gegen den Zürcher Flughafen ganz zu schweigen: Die machen nur so ein Fluglärm-Drama, weil ein grosser Teil der Bevölkerung des Landes lieber in Zürich als in Stuttgart den Flieger besteigt, weil die Auswahl an Destinationen viel grösser ist. Mit dem neuen Bahnhof am Flughafen soll dieser auch aufgewertet werden – und natürlich auch mit politischer Hilfe, die “Flucht” ins benachbarte Ausland wird ja nicht gerne gesehen.
In Mannheim oder Frankfurt, die Knotenpunkte sowohl in Nord-Süd-, als auch in Ost-West-Richtung darstellen, wären solche immensen Projekte eher verantwortbar. Aber nicht in Stuttgart, das “nur” ein Haltepunkt der Linie Frankfurt-München darstellt. Mit dem Abzug von ICE angeblich aus technischen Gründen hat die Deutsche Bahn ja bewiesen, dass ihr der Nord-Süd-Verkehr in Stuttgart in Richtung Zürich ja überhaupt nicht behagt.
Interessant ist auch die Ausstellung zu Stuttgart 21 im Turm des Hauptbahnhofs. Bei meinem ersten Besuch 2004 dachte ich über das Projekt nur: “Wow, cool!”. Es wurde sachlich vorgestellt, mit städteplanerischen und verkehrsmässigen Veränderungen. Über die Jahre hinweg entwickelte sie sich aber zu einer Propagandaveranstaltung, wie ich beim letzten Besuch im Frühling 2010 erkennen musste. Man versuchte den Besuchern mit aller Gewalt, den Nutzen und die Wichtigkeit des Projekts schmackhaft zu machen, Gegenfragen und Bedenken wurde mit schlechten Argumenten Einhalt geboten. Es macht den Anschein, als würde ohne Stuttgart 21 die Welt untergehen. Klar ist der Bahnhof in einem maroden Zustand, hat die Deutsche Bahn in Hinblick auf das Projekt doch keinen Pfennig beziehungsweise ab 2002 Cent mehr in den Unterhalt gesteckt.
Persönlich würde ich Geisslers Kompromissvorschlag bevorzugen, denn für die Achse Mannheim-München würde der gewünschte Fahrtzeitengewinn resultieren, während der Kopfbahnhof bestehen bleibt und so die Kosten reduziert werden können. Alternativ möglich wäre auch der Bau einer Spange Feuerbach-Bad Cannstatt mit einem Ausbau des Cannstatter oder des Feuerbacher Bahnhofs zu einem Fernbahnhof. Der Kopfbahnhof könnte hier als Regionalverkehrsknoten bestehen bleiben.
Siehe auch
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