Wieder einmal jährt sich ein schreckliches Ereignis des Horrorherbstes 2001 zum zehnten Mal. 16 Tage nach den Terroranschlägen von New York und Washington erschoss ein einschlägig bekannter Querulant im Zuger Kantonsparlament 14 Menschen, ehe er sich selbst richtete. Die Folgen von 9/27 sind noch spürbar.
Einfach nur unbegreiflich
Die NZZ schrieb in ihrer Rekapitulation der Ereignisse damals in ihrer Ausgabe vom 24. September 2011, dass für die Schweizer Bevölkerung im Gegensatz zu 9/11 keine genaue Erinnerung an die Tätigkeit, die man zu dem Zeitpunkt ausführte, als einem die Nachricht vom Zuger Attentat ereilte, existiert. Ich möchte hier dagegen halten. Ich war zwar erst ein 10 Jahre alter Knirps, doch habe ich diesen Donnerstag noch genau in Erinnerung. Beim Mittagessen efuhr ich über Radio Central, was passiert war, doch aufgrund meines jungen Alters konnte ich natürlich die Folgen und vor allem der Angriff auf die Schweizer Lebensweise nicht abschätzen. Nachmittags in der Schule versuchte meine damalige Werklehrerin uns die Schreckenstat beizubringen und diskutierte auch mit uns Schülerinnen und Schülern. Eine Mitschülerin von mir stellte die Theorie auf, dass die Anschläge in den USA ebenfalls einen Einfluss auf die Tat hatten. Obwohl sie erst elf war, hatte sie total Recht. Auch wenn das nicht gross kommuniziert wurde, senkte 9/11 die Hemmschwelle zur Durchführung einer solchen Tat. Die Überwindung ist einfacher, der Zuger Attentäter hatte den Anschlag akribisch genau geplant, daher ist der viel verwendete Begriff Amoklauf in diesem Kontext eigentlich falsch. Der Amokläufer handelt aus dem Affekt, diese Tat war geplant, darum sind die Bezeichnungen Attentat oder Anschlag viel zutreffender. Er war sich sicher, dass er die Tat samt dem Selbstmord durchzieht. Sein Haus in Seelisberg/UR verkaufte er zuvor, zudem schrieb er seiner Mutter einen Abschiedsbrief. Wenn wir nach dem Grund suchen, dann fehlen uns die Worte. Eine absolute Lappalie – ein Chauffeur der Zugerland Verkehrsbetriebe, der nach dem Feierabend ein Bier trank – raubte 14 Menschen das eigene Leben. Im Auto des Massenmörders wurde ein Bekennerschreiben gefunden, vom “Tag des Zorns für die Zuger Mafia” ist die Rede. Der Attentäter hatte über Zeitungen und Telefonate beim Kanton den Chauffeur des Alkoholmissbrauchs bezichtigt, woraufhin dessen Arbeitgeber ZVB eine Verleumdungsklage gegen den Querulanten einreichte. Die Angelegenheit war sogar vor dem Bundesgericht in Lausanne behandelt worden. Offensichtliches Ziel der Tat war der damalige Regierungsrat Robert Bisig, denn der Attentäter habe während der Tat “Wo isch de huere Bisig?” geschrieen. Bisig überlebte unverletzt, dafür verloren drei seiner Regierungsratskollegen und 11 Kantonsräte ihr Leben, als der Attentäter um 10:32 mit dem Morden begann. 18 weitere erlitten Verletzungen.
Den Namen des Attentäters werden Sie in diesem Artikel übrigens vergebens suchen. Er hat die Erwähnung seines Namens auf keine Weise verdient. Dass er nach der Tat trotzdem auf allen Medienkanälen kursierte, bescherte dem Mörder eine Aufmerksamkeit, die ihm nicht gebührte. Denn leider wird oftmals den Tätern viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Opfern, zuletzt geschehen in Norwegen. Ich habe diesen Artikel nicht als Anerkennung für den Täter geschrieben, sondern – und das betone ich ausdrücklich – als Anerkennung für die Toten. Sie haben sich nichtsahnend an jenem Septembermorgen von ihren Familien verabschiedet, sich vielleicht wieder zum Mittagessen zurückgemeldet – und dann waren sie einfach weg, ausgelöscht durch Patronen.
Die Wunden sind nicht überall verheilt
Zehn Jahre sind seither vergangen, im renovierten Saal werden wieder die Sitzungen abgehalten, die physischen Wunden der Verletzten grösstenteils verheilt, doch Narben bleiben zurück. Auch im Innenleben der damals im Kantonsrat Anwesenden, der Angehörigen. Die Anschläge in Norwegen, bei denen unter anderem auf der Insel Utøya über 70 Menschen auf dieselbe grausame Weise im Kugelhagel eines Psychopathen starben, haben die Wunden in Zug wieder aufgerissen. Exakt sechs Monate später, am 27. März 2002, erschoss ein psychisch Kranker im Stadtparlament der Pariser Vorstadt Nanterre 8 Menschen und verletzte 19 weitere teilweise schwer. Solche Ereignisse reissen Wunden auf. Für jeden der damals Beteiligten waren die 2 Minuten und 34 Sekunden die Hölle auf Erden. Hanspeter Uster, der damals einen Lungendurchschuss erlitten hatte, gab in Interviews mit der NZZ am Sonntag und der Neuen Zuger Zeitung offen zu, dass die Verarbeitung der Ereignisse für ihn sehr schwer waren.
Auch die Folgen sind schweizweit ersichtlich. Es war Usus, dass sich Politiker auf demselben Level wie das Volk bewegten. Kaum gepanzerte Fahrzeuge oder haufenweise Bodyguards. Der Zugang zu Parlamentsräumen und Ämtern war uneingeschränkt möglich. Jetzt wurden Sicherheitsschleusen eingebaut, Türen. Berufes wegen musste ich vor knapp zwei Wochen im Stadthaus in Zug eine Radarpistole zur Verkehrszählung abgeben, alles ist verriegelt. Beim jeweiligen Stockwerk muss man zunächst klingeln, ehe dann die Tür von jemandem persönlich geöffnet wird, der dann auch das eigene Anliegen entgegen nimmt.
Nicht zu vergessen ist natürlich, dass das Blutbad auch ein Angriff auf die Demokratie war. Auch aus diesem Grund reiste der damalige Bundespräsident Moritz Leuenberger von Neuchätel, wo er den senegalesischen Präsidenten zu einer Vernissage empfangen hatte, umgehend nach Zug und hielt vor dem Regierungsgebäude am Postplatz eine ergreifende Rede. Die Schweiz, wo sich jeder in absoluter Sicherheit wähnte, in ihrem Herzen getroffen. Die Flaggen auf dem Bundeshaus wehten auf Halbmast, Staatstrauer war angesetzt. Der aus Zug stammende Nationalratspräsident Peter Hess unterbrach die zeitgleich andauernde Ratssitzung, als das Attentat in seiner Heimatstadt bekannt wurde. Auch das nahe Ausland war erschüttert, der deutsche Bundestag hielt eine Schweigeminute ab, als die Hiobsbotschaft den Plenarsaal erreicht hatte. Der Kanton Zug war danach amtsunfähig und die politischen Geschicke mussten mit einer provisorischen Task Force geleitet werden, der nebst den beiden unverletzt gebliebenen Regierungssräten Robert Bisig und Ruth Schwerzmann auch der Kommandant der Kantonspolizei, Urs Hürlimann, angehörte.
Auch in der Vergangenheit wurden oftmals Wunden aufgerissen. Im Rahmen des Playoffspiels zwischen dem EV Zug und dem SC Bern im März 2004 enthüllten Berner Anhänger ein Plakat, das einen Dank an den Attentäter aussprach. Der SC Bern sah sich danach gezwungen, in jeder Zentralschweizer Zeitung einen offenen Entschuldigungsbrief zu veröffentlichen, aber sonst wurde leider keine Strafe ausgesprochen. Das Schweizer Fernsehen, das damals die Partie live übertrug, zeigte das Plakat nur einmal, danach nicht wieder. Vielleicht ist es gerade Schicksal, dass das neue Stadion des EVZ den Namen Bossard Arena trägt, denn der Namenspate, der weltweit tätige Schraubenhänder Bossard ist das Familienunternehmen Peter Bossards, der in seinem Amt als Regierungsrat damals im Kantonsratsgebäude den Tod fand. So hat Bossard indirekt zu Ehren gefunden.
Zug: 10 Jahre danach (10vor10 vom 26. September 2011)
Eine stille Gedenkfeier
Wie jedes Jahr gedenkt der Kanton Zug den Opfern des 27. September 2001. Traditionell ist es ein sehr ruhiger Anlass, es wird kaum so viel Pomp gemacht, wie das die USA jährlich am 11. September zelebrieren. Dieses Jahr findet der Anlass in der Pfarrkirche Unterägeri/ZG statt, der Chor Audite Nova präsentiert das vom Brunner Komponisten Hansjörg Römer geschaffene Werk Gesänge für den Frieden. Das Projekt entstand weniger wegen der Trauerfeier, sondern war eine Auftragskomposition des Chors zu seinem 40-jährigen Jubiläum. In Unterägeri wird unter anderem auch Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey erwartet. Auch sonst stand der Tag im Zentrum des Gedenkens. Der Kantonsratssaal wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, vor allem Angehörige suchten den Tatort von damals auf. Zur Mittagszeit erklangen im gesamten Kanton zum Gedenken an die Opfer die Kirchenglocken.
Als Erinnerung noch die Namen der Opfer:
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