ERASMUS sistiert: Die Falschen leiden unter den Sanktionen

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Nachdem das Schweizer Volk am 9. Februar 2014 die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) der SVP angenommen hat, wurde das im Gange befindliche Abkommen zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf das neue EU-Mitglied Kroatien auf Eis gelegt. Als Folge darauf strich die Europäische Union Unterstützungsgelder für Filmprojekte und schloss die Schweiz aus dem Forschungsprogramm Horizon 2020 und dem Studentenaustauschprogramm ERASMUS aus. Opfer dieser Sanktionen werden nun diejenigen Schweizer Bürgerinnen und Bürger, welche die Initiative abgelehnt haben. Studenten als Bauernopfer für die Egos von Nationalisten?

Ausschluss aus ERASMUS

Mit 700 Millionen Franken das wohl teuerste Einzelgebäude der Schweiz: HIL auf dem ETH-Campus Hönggerberg
Schweizer Hochschulen bangen nach der Sistierung von Horizon 2020 und ERASMUS um die Zukunft. (Bild: Campus Hönggerberg der ETH Zürich)
Die Annahme Masseneinwanderungsinitiative sorgte für hohe Wellen: Während der Schweizer Bundesrat in aller Welt nun das Abstimmungsresultat erklären muss, weil er statt dem Volk die Konsequenzen klar zu machen, lieber entweder in Japan Tee trinken war, sich über seine Steueroptimierungen auf Jersey herausreden musste oder lieber in Sotschi dem Neo-Zaren aus St. Petersburg huldigte, hat die EU nun erste Konsequenzen ausgesprochen: Vorerst können Schweizer Filmschaffende nicht mehr auf Unterstützungsgelder aus der EU bauen, was für die Filmbranche einen erheblichen Einschnitt bedeutet. Doch auch das allgemein auch von patriotischer Seite jeweils immer hochgelobte Schweizer Bildungssystem spürt die Konsequenzen: Schweizer Hochschulen dürfen nicht mehr am Forschungsprogramm Horizon 2020 teilnehmen, so ist unter anderem das Human Brain Projekt unter Federführung der École polytechnique féderale Lausanne (EPFL) in Gefahr. Die Argumente der Initiativbefürworter, dass die Zahlungen der Schweiz an dieses Programm nun direkt den Forschern zu Gute kommt, haben einen kleinen Haken: Für ein ideales Forschungsprojekt braucht es nicht nur Geld, sondern auch ein gutes Netzwerk mit anderen Forschern.
Zu guter Letzt dürfen Schweizer Studierende nicht mehr am europäischen Austauschprogramm ERASMUS teilnehmen. Tausende Studenten nutzen jedes Jahr dieses Programm, um ein Semester in einem anderen europäischen Land zu absolvieren, zudem profitieren auch Schweizer Hochschulen von ausländischen Studierenden.

Filmschaffende, Studenten und Forscher als Bauernopfer

SVP-Menthusalem Christoph Blocher setzte sich an vorderster Front für die Initiativkampagne ein, obwohl sein Milliardenvermögen, mit dem er mutmasslich die SVP-Kampagnen finanziert, aus seinem Engagement bei der Ems Chemie mit Sitz in Domat/Ems/GR stammt, einem Chemiekonzert, der fundamentale Teile seines Umsatzes im Ausland generiert. Zudem besteht die Belegschaft der Ems Chemie bestimmt nicht ausschliesslich aus Schweizerinnen und Schweizern.
Die Demografie des Abstimmungsergebnisses vom 9. Februar 2014 zeigt, dass mit Ausnahmen zwei Gegensätze auszumachen sind. Der seit der EWR-Abstimmung bestens bekannte Röstigraben (Deutschschweiz versus Romandie) erhielt Gesellschaft durch den Stadt-Land-Konflikt. Das Tessin wiederum spielt eine andere Rolle, da hier sowohl Stadt und Land der Initiative zugestimmt haben – in der italienischen Schweiz wurde die Initiative auch von den Grünen unterstützt, mit dem Argument für weniger Grenzverkehr und weniger Landverbrauch.
Die deutsch- und welschschweizer Städte haben die Initiative abgelehnt, während ländliche und Agglomerationsgemeinden zumindest im deutschsprachigen Teil der Schweiz diese angenommen haben. Kulturschaffende, Studenten und Forscher leben meist in Städten, dem nahen Zugang zu ihren notwendigen Infrastrukturen wie Hochschulen sei Dank. Aufgrund genauer Analysen der Resultate sind diese beiden Bevölkerungsgruppen mehrheitlich dem Mitte-Links-Spektrum zuzuordnen und haben dementsprechend die Initiative abgelehnt. Nun sind sie die ersten Opfer. Nicht die Unternehmer und Lobbyisten à la Blocher und Adrian Amstutz, nicht Landwirte wie Toni Brunner.
Tagesschau von Schweizer Radio und Fernsehen vom 10. Februar 2014 über die Konsequenzen, falls Horizon 2020 und ERASMUS auf Eis gelegt werden

Ist dies Erpressung durch die EU?

Solche Projekte wie ERASMUS sind nicht direkt von der Personenfreizügigkeit und somit vom Abstimmungsergebnis betroffen, dienen jedoch als Spielball von Seiten der Europäischen Union. Zurecht wird der EU Erpressung vorgeworfen, jedoch muss auch bedacht werden, dass die Damen und Herren in Brüssel am längeren Hebel sitzen. Fragen, wie die Abstimmung in EU-Staaten herausgekommen wäre, sind zwar schön, doch ändern am Sachverhalt nichts. Die Schweiz sieht sich schon seit langem als etwas Grösseres an, als sie tatsächlich ist. Sie verhält sich in gewissen Fragen wie eine Grossmacht, obwohl sie auf der Landkarte nur einen buchstäblichen Fliegenschiss darstellt. Obwohl auch viele der Konservativen und Traditionalisten oft und gerne das Internet benötigen, stemmen sie sich gegen jede Form von Öffnung und Globalisierung, obwohl just dieses zum Symbol der weltweiten Vernetzung avancierte. Seit dem Jahrtausendwechsel spielen Grenzen eigentlich keine Rolle mehr, sie sind verflüchtigt.
An der Nase müssen sich auch Bundesrat und Parlament nehmen, die Kampagne gegen die Initiative hat offensichtlich versagt. Solche politischen Konsequenzen wurden niemals thematisiert, man versuchte nur, die horrenden Dystopieprophezeihungen der SVP zu entschärfen.

Links

  • EU: Schweiz nächstes Jahr bei Erasmus nicht dabeiTages-Anzeiger Online vom 26. Februar 2014
  • Erasmus: Studentenaustausch kann einbrechenNZZ Online vom 22. Februar 2014
  • Online-Petition zur Erhaltung des ERASMUS-Programms auch für Schweizer Studierende (französischsprachig)
  • Informationsseite zu ERASMUS der Universität Zürich
  • Informationsseite zu ERASMUS der ETH Zürich
  • Gangbare Lösungen fehlenETH News vom 18. Februar 2014