Der Thurgauer Eisenbahnfahrzeughersteller Stadler Rail erhält von den SBB den Auftrag, 29 neue Züge für den Nord-Süd-Verkehr (BeNe-Ausschreibung) zu bauen. Stadler setzte sich gegen die Mitbewerber Alstom und Patentes Talgo durch, das Angebot des deutschen Siemens-Konzerns wurde bereits nach der ersten Ausschreibungsrunde zu den Akten gelegt, da der deutsche Hersteller seine Einreichung nicht mehr überarbeiten wollte. Die zweite Ausschreibungsrunde war notwendig gewesen, weil einerseits den SBB in der Ausschreibung formale Fehler unterlaufen sind, andererseits keiner der vier Bewerber die erforderlichen Anforderungen erfüllt hatte. Die 29 Züge kommen auf der Nord-Süd-Achse am Gotthard und am Simplon zum Einsatz. Insgesamt verfügen die SBB noch über Optionen für 92 weitere Stadler EC 250. Die SBB vermarktet den neuen Hochgeschwindigkeitszug unter dem Namen Giruno.
Die Details der Züge
Die Ausschreibung für die 29 neuen SBB-Züge wurde im April 2012 lanciert und war auch unter der Bezeichnung SBB BeNe bekannt. Nach ersten Gerüchten, die besagten dass die Züge entweder mit Neigetechnik ausgerüstet werden müssen oder eine Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h besitzen sollen, wurde bei den konkreten Angaben bekannt, dass die SBB künftig auf Neigetechnik verzichten und die Züge maximal 249 km/h schnell sein sollen, um in eine tiefere TSI-Klasse zu gelangen. Damit wurden jedoch auch ein Einsatz auf italienischen Schnellfahrstrecken und auf der deutschen Schnellfahrstrecke Köln-Rhein/Main (KRM) unmöglich, auch die ins Auge gefasste Niederlande-Zulassung für Direktzüge Amsterdam-Mailand war am Ende nicht im Vorgabenkatalog enthalten, die Züge müssen für die Schweiz, Deutschland und Italien zugelassen sein. Im ersten Ausschreibungsanlauf wünschten sixh die SBB einen Neigezug mit sieben Länderzulassungen und einer Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h, was in der Praxis nur schwer umzusetzen wäre. Bereits die Vorgabe, dass der Zug wegen der Kompatibilität mit dem Behindertengleichstellungsgesetz niederflurig sein muss, sorgte für erhebliche Probleme bei der Submission.
In Einfachtraktion sollen die Züge eine Länge über Kupplung (LüK) von 200 Metern aufweisen. In einer Doppeltraktion sollen 800 Personen Platz finden.
Es existieren zwei Varianten:
Bei nachfragestarken Relationen werden die Kompositionen der Variante 1 durch eine Komposition der Variante 2 verstärkt, so dass eine 400 Meter lange Doppeltraktion gebildet wird. Fahrplanmässig vorgesehen ist eine solche Doppelführung im Abschnitt Zürich HB–Lugano, wobei die Typ 1-Züge in Lugano mit dem Typ 2-Zug gestärkt bzw. geschwächt werden.
Die Züge kosten nun 980 Millionen Schweizer Franken, beim Start der Ausschreibung im April 2012 waren noch 800 Millionen veranschlagt worden. Zum Vergleich: Die 59 Twindexx-Doppelstockzüge für den Ost-West-Fernverkehr schlagen mit 1.9 Milliarden Schweizer Franken zu Buche, Pönalen wegen der zweijährigen Verzögerung nicht einberechnet.
Nebst den 29 bereits definierten Zügen umfasst der Auftrag noch zwei Optionen über 12 bzw. 80 Züge.
Das Einsatzgebiet der Züge
Die Züge sollen nicht nur im Schweizer Normalspurnetz unter 15 kV 16.67 Hz Wechselstrom verkehren können, sondern auch in Österreich und Deutschland bei derselben Spannung, aber breiteren Stromabnehmerschleifen, und in Italien im Wechselstrom- (25 kV 50 Hz) und Gleichstromnetz (3000 V). Die primäre Aufgabe ist der Einsatz im Nord-Süd-Verkehr am Gotthard und am Lötschberg. Stündlich ist ein EuroCity Zürich HB–Milano Centrale via Gotthard vorgesehen, dazu kommen wie bisher die acht EuroCity-Zugspaare am Simplon (je vier Milano–Bern–Basel SBB und Milano–Genève). Optional sind in Randstunden sogar halbstündliche Züge Arth-Goldau–Milano Centrale geplant, die zusätzlichen Züge sollen im InterCity-Takt Lugano–Basel SBB mitschwimmen und eine Direktverbindung Milano–Luzern ermöglichen. Auch die InterCity-Züge Basel SBB-/Zürich HB-Lugano sollen mit den BeNe-Zügen, welche die Bezeichnung RABDe 504 erhalten, gefahren werden. Zudem soll am Simplon vorerst ein Mischverkehr mit RABDe 504 und ETR 610 gefahren werden. Für die für diesen Verkehr notwendigen Umläufe sind (inklusive Reserven) die 29 Züge eingeplant. Der ursprünglich geplante alternierende Zweistundentakt Milano Centrale–Zürich HB und Milano Centrale–Luzern–Basel–Frankfurt/Main Hbf kann nicht verwirklicht werden, einerseits wegen Trassenvorgaben von Seiten der italienischen Staatsbahn in Mailand – weswegen die EuroCity-Züge bereits per Juni 2014 um 30 Minuten gedreht werden – und andererseits, weil der angestrebte Halbstundentakt Frankfurt (Main)–Basel SBB mit drei ICE-Linien und dem Gotthard-EC aus Kapazitätsgründen und dem auf die lange Bank geschobenen Bau der Neubaustrecke Main-Neckar zwischen Frankfurt und Mannheim nicht eingeführt werden kann.
Für die geplanten Zweistundentakte Milano–Genève und Milano–Bern–Basel SBB am Simplon mit dem damit verbundenen Stundentakt Milano–Brig samt Komplettumstellung auf BeNe-Züge sind in einer ersten Option zwölf zusätzliche Züge vorgesehen.
Der geplante Ablauf
Am 10. Mai 2014 wird der Vergabeentscheid öffentlich publiziert, danach können die unterlegenen Anbieter während 20 Tagen Rekurs einlegen. Läuft alles nach Plan, wird im Juni 2014 der Vertrag zwischen den beiden Parteien unterzeichnet. Gefertigt wird der von Herstellerseite als EC250 bezeichnete 11-teilige Triebzug wird im Werk Bussnang/TG, die Drehgestelle hingegen in Winterthur. Atypisch für den Schweizer Fernverkehr, aber üblich für Stadler-Produkte werden die Züge mit Jacobs-Drehgestellen produziert, im Gegensatz zu herkömmlichen Drehgestellen figuerieren diese als Bindeglied zwischen zwei Wagen.
Die ersten Züge sollen Ende 2018 den Verkehr aufnehmen, der letzte der 29 Züge soll 2020 abgeliefert werden, damit nach der Vollendung des Ceneri-Basistunnels und der Ausbauten in Walchwil und am Axen der Halbstundentakt Arth-Goldau–Lugano lanciert werden kann.
Im Verlauf des Jahres 2015 werden die aktuell am Gotthard im Einsatz stehenden ETR 470 der SBB durch die neu abzuliefernde zweite Serie der ETR 610 ersetzt. Nach vollständiger Inbetriebnahme der 29 neuen EC-Triebzüge auf den beiden Schweizer Nord-Süd-Achsen werden die nunmehr 15 SBB ETR 610 neuen Aufgaben zugeführt, im Fokus steht dabei die Verbindung Zürich HB–Bruxelles-Midi gemeinsam mit SNCF, CFL und SNCB/NMBS.
Aufgrund von formalen Fehlern bezüglich Lebenszyklen von Seiten der SBB und der Tatsache, dass keiner der vier Bewerber – Siemens, Stadler, Alstom und Patentes Talgo – 85 Prozent der erforderlichen Vorgaben erfüllt haben, wurde eine zweite Ausschreibungsrunde lanciert. Siemens zog sich daraufhin vom Projekt zurück, die anderen drei reichten danach eine überarbeitete Version ein. Talgo reichte eine Variation seines neusten Modells Talgo AVRIL ein, die SBB wäre hier der erste Besteller geworden, Alstom ein neigetechikloses Produkt der Pendolino-Familie ähnlich zum ETR 610 und Siemens eine Variation des ICx, welche der deutsche Konzern gemeinsam mit der Deutschen Bahn als Nachfolger für die ICE 1, ICE 2 und die Intercity-Wagen entwickelt hatte.
Stadler ohne Erfahrung im Fernverkehr
Im Gegensatz zu seinen drei Mittbewerbern, die mit ihren ICE, TGV und Talgo-Zügen über eine breit gefächerte Erfahrung im Fernverkehr verfügen, drang Stadler Rail bisher nur im Regional- und S-Bahn-Verkehr in Erscheinung. Die aufgrund ihrer Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h oftmals als Fernverkehrszüge bezeichneten Flirts der norwegischen Staatsbahnen NSB und der österreichischen westBAHN sind jedoch nur leistungsstärkere Regionalzüge. Wie Stadler mit den Herausforderungen klarkommt, wird sich zeigen. Die SBB kann sich jedoch nach den Problemen mit den neuen InterCity-Doppelstockzügen des Typs TWINDEXX Swiss Express des deutsch-kanadischen Schienenfahrzeugherstellers Bombardier Transportation kein weiteres Debakel mehr leisten.
Herstellerportrait
Stadler Rail des früheren SVP-Nationalrats Peter Spuhler war bisher vorwiegend im Regional- und Stadtverkehr tätig, adaptierte Regionalzüge kommen heute bereits in Österreich und Norwegen zum Einsatz. Der BeNe-Zug der SBB ist der erste Fernverkehrszug des Konzerns, der als solches entwickelt wurde. Bekannteste Produktplattformen aus dem Hause Stadler sind der Flinke, innovative Regionaltriebzug (FLIRT), der doppelstöckige komfortabler innovativer spurtstarker S-Bahn-Zug (KISS) und die vorwiegend in der Schweiz anzutreffenden Schmalspurzüge KOMET (MGB), DIAMANT (BDWM), ADLER, FINK und SPATZ (alle zb). Zudem verfügt das Unternehmen über Kompetenzen im Bereich der Zahnradloks, welche Stadler aus den Überresten der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) erstand. In der Schweiz verfügt der Konzern über Standorte in Bussnang/TG, Erlen/TG, Altenrhein/SG und Winterthur. Zudem ist er beispielsweise über die Stadler Pankow GmbH in Deutschland und über andere Tochterfirmen in diversen osteuropäischen Staaten vertreten.
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