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Offener Kritikbrief an die 20 Minuten-Redaktion

Die Schweizer Gratiszeitung 20 Minuten – immerhin die auflagenstärkste Zeitung der Schweiz – nimmt ihren Auftrag als Meinungsbildnerin wohl etwas zu ernst. Passt ihr ein Thema oder eine Institution nicht, wird medial auf dieses eingeprescht, bis wohl alle der nicht unbedingt mit der Fähigkeit, sich eine eigene Meinung zu bilden gesegnete Leserschaft mitmacht. Diesem medialen Mobbing ist ein Ende zu bereiten, vor allem, wenn es gegen Berufsgruppen und SBB-Angestellten geht. Deshalb dieser Brief als Reaktion.

Solch primitiven Kommentare überstehen die Zensur der 20 Minuten-Redaktion – warum man solchen Einfaltspinseln eine Plattform bietet, ist schleierhaft
Solch primitiven Kommentare überstehen die Zensur der 20 Minuten-Redaktion – warum man solchen Einfaltspinseln eine Plattform bietet, ist schleierhaft
In der Vergangenheit häufen sich in Ihren Publikationen kritische Berichterstattungen über die SBB. Was durchaus ihre Legitimität hat, da bei der Staatsbahn bei Weitem nicht alles Gold ist, was glänzt. Jedoch fällt auf, dass gezielt solche Pranger gesucht werden, um noch einen reinzuwischen.
Aktuelles Beispiel dieser Reisende, der als Inhaber eines GA 2. Klasse glasklar gegen die Beförderungsbedingungen verstossen hat und sich den Aufforderungen des Zugspersonals widersetzt hat, bekommt eine Plattform, die zurzeit eine der meistdiskutiertesten Angelegenheiten der Schweiz ist. Warum bietet man solchen Regelbrechern diese Möglichkeit, sich zu postieren? Die Beförderungsbedingungen sind bekannt und auch an den Waggons lesbar.
Ich versuche, meine Frage mal zu beantworten: Geschieht diese Aufbauschelei vielleicht im Wissen, dass die Leserschaft hauptsächlich nicht gerade mit viel Intellekt gesegnet ist und schön das nachplappert, was vorgekaut wird? Braucht 20 Minuten – immerhin eigenen Angaben nach die auflagenstärkste Zeitung der Schweiz – solche Shitstorms, um die Aufmerksamkeit zu behalten? Wieso wird man zum Buhmann der Nation, nur weil man seinen Job den Reglementen getreu und ebenso korrekt ausgeführt hat?
Als weiteres Beispiel möchte ich den Artikel über den vergessenen Halt der S2 Ziegelbrücke–Zürich Flughafen in Thalwil einbringen. Was hat ein solcher Vorfall in den Medien zu suchen? Es ist ein Fehler, ganz klar – aber wo gearbeitet wird, passieren Fehler. Der Lokführer schämt sich sicherlich dafür, also ist es unnötig, ihn noch in der Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen. Wenn in einem Büro in irgend einer Kalkulation ein Fehler passiert, wird auch nicht gleich ein Artikel in Ihrer Publikation veröffentlicht. Ich frage mich, ob sich Redakteure überhaupt bewusst sind, was sie anrichten können? Wenn einem der Gegenwind der Gesellschaft entgegen weht, ist das ein gutes Gefühl? Ich, der ebenfalls den Beruf des Lokführers (aktuell noch in Ausbildung) ausübe, hätte grosse Probleme damit, klarzukommen. Vielleicht wird die Angst grösser, nochmals einen solchen Fehler zu begehen? Ein Fehler, der absolut nicht sicherheitsrelevant ist.
Eine weitere Frage, die mich beschäftigt ist: Wieso wird diesen Kommentarschreibern ermöglicht, ihre teils primitiven Phrasen der Welt kundzutun? Gewisse sind verletzend (z.B. als Reaktion auf den Thalwiler Vorfall: „Die Lokführer sind aggressiv und gestört“) und entbehren jeglicher Grundlage, andere wiederum sind Perlen der Weisheit sogenannter Experten, die immer alles besser wissen, trotz vollständig vorhandener Unwissenheit.
Vor allem gehören solche Funktionen bei Unfällen (z.B. Rafz, wo jeder plötzlich der perfekte Lokführer zu glauben sein schien) deaktiviert, Ihre Konkurrenz aus dem Hause Ringier besitzt immerhin dieses Fingerspitzengefühl.

Leider habe ich nahezu täglich nach der Lektüre Ihrer Publikation das Gefühl, nicht einen stolzen Job auszuführen, sondern das Leben eines Schwerverbrechers zu fristen, der die gesamte Gesellschaft über den Tisch zieht. Die Meinungsbildung der Gesellschaft geschieht grossmehrheitlich über die Medien, deswegen müssen die Medien ein gewisses Verantwortungsbewusstsein und eine gewisse Neutralität aufweisen, zumal die Menschen heute nicht mehr den Drang haben, ihre Informationen selber zu recherchieren und ein eigenes Meinungsbild zu kreieren.

Ich wünsche mir, dass Sie sich im Namen der Redaktion an den betroffenen Berufsbildern entschuldigen und künftig in der Themenauswahl ein wenig mehr nachdenken. Man kann auch mit Niveau Leser anziehen, wie das Beispiel der NZZ zeigt.

Freundliche Grüsse
Daniel Wachter

Anmerkung des Verfassers

Dieser Brief wurde in demselben Wortlaut an die Redaktion der 20 Minuten AG, dem Chefredakteur der 20 Minuten, der Konzernmutter Tamedia und der Ombudsstelle der Tamedia zugesandt. Auf eine Antwort oder Stellungnahme wartet man bislang vergebens.