Seit Samstag Nacht ist London fest in der Hand von Krawallmachern. Anfänglich war die Gewalt aus einer friedlichen Kundgebung im Nordlondoner Stadtteil Tottenham ausgebrochen, mittlerweile hat sie die gesamte Stadt erreicht. Obwohl die Gewalt ist für die britische Hauptstadt eine Art Alltagsgeschäft ist, so schlägt sie dieses Jahr kräftig über die Grenzen. Sogar neunjährige Kinder sollen kräftig mitischen. Seit Montagnacht sind auch andere britische Städte betroffen…
Gewalt ist keine Lösung
Wer hier jetzt irgendwelche Stellungnahmen zu den Krawallen, oder die wie Briten sagen, riots, erwartet, den muss ich leider enttäuschen. Das einzige was ich dazu sage, ist nur die Frage: Warum? Ja – warum habt ihr es nicht kapiert, dass man mit Gewalt keine Lösung erreicht? Friedliche Revolutionen waren auch erfolgreich und die Tage von Machtinhabern wie Gaddafi und Al-Assad, die auf ihr eigenes Volk schiessen, sind früher oder später gezählt. Was mir allerdings rätselhaft erscheint, ist, wieso Premierminister David Cameron bis Montagnachmittag, als er vor der schwarzen Tür mit der goldenen 10 die Medien empfing, kein Wort dazu gesagt hat. Er wird wohl gemerkt haben, dass es nach den Abhörskandalen und den aktuell andauernden Gewaltexzessen doch kein so toller Job ist, auf dem Chefsessel in Westminster zu sitzen und hat stattdessen seinen Vize Nick Clegg vor die Kameras gestellt. Immerhin hat er seine Ferien – mal wieder – unterbrochen, um an einer Sondersitzung in der Downing Street teilzunehmen. Auch Londons Bürgermeister Boris Johnson sei am Montagabend aus den Ferien zurückgekehrt, hat jedoch bisher keine Stellungnahme abgegeben. Der Buckingham Palace schweigt der Regel entsprechend: Es ist Usus, dass sich das britische Königshaus nicht in das politische Geschehen einmischt, daher äussert sich auch Queen Elizabeth II. nicht in der Öffentlichkeit über die Ereignisse in ihrem Land.
Mich lassen die Krawallen schon allein deshalb nicht unberührt, weil ich vor weniger als drei Wochen noch in der britischen Hauptstadt geweilt habe. Orte wie die Oxford Street, die ich damals besucht habe, wurden Schauplätze sinnloser Ausraster. Sonst waren die Krawallen eher auf Orte ausserhalb des Stadtzentrums konzentriert: Tottenham, Walthamstow, Enfield und Islington im Norden, Hackney im Nordosten, Barking im Osten, Peckham, Woolwich und Lewisham im Südosten, Croydon und das berühmt-berüchtigte Brixton im Süden. Zu den Unruhen, bei denen nebst Autos und Bussen auch ganze Häuserzeilen in Flammen aufgehen, gesellen sich noch Plünderungen. In einigen Strassenzügen gibt es kaum ein Geschäft, das noch eine intakte Schaufensterscheibe und einen stabilen Inventarstand vorweisen kann.
Anfangs in Tottenham…
Angefangen haben die ganzen Gewaltakte in der Nacht auf Sonntag in Tottenham. Offizieller Auslöser war der Tod eines 29-jährigen Familienvaters bei einem Polizeieinsatz: Eine Kugel traf den Mann, die andere das Funkgerät eines Polizisten. Die Polizei hat zwar von Notwehr gesprochen, was jedoch von der Familie des Opfers angezweifelt wurde. In Tat und Wahrheit gibt es einem Scotland Yard-Bericht zufolge keine Beweise, dass der Mann, der auf Tottenhams Strassen als Drogenkurier bekannt war, auf die Beamten geschossen hat. Im Gedenken an den Toten haben sich dann am Samstagabend mehrere hundert Menschen zu einer friedlichen Andacht in der Tottenham High Road südlich des White Hart Lane-Stadions versammelt. Plötzlich geriet das Ganze aufgrund ein paar wenigen Chaoten ausser Kontrolle, die Familie des Toten distanziert sich ausdrücklich von den Krawallakten. War der erste Tag noch auf Tottenham beschränkt, weiteten sich die Ausschreitungen auf andere Stadtteile wie Enfield, Walthamstow, Islington oder Peckham aus, am Montag griff es dann auch auf Croydon oder Ostlondon über. Dienstags waren auch Stadtteile wie Ealing im Westen oder Clapham im Süden von den Unruhen betroffen. Die Randalierer, meist Jugendliche, verabreden sich via Facebook oder Handy zu Scharmützeln, um die Polizei auf Trab zu halten. “Wenn du einen Polizisten siehst, schiess!” heisst die Parole. Einige so genannte Anarchisten begründen die Exzesse mit dem Aufstand der Arbeiterklasse gegen die Staatsgewalt – die momentan unter Cameron an der Macht stehende Regierung ist eine Koalitionsbildung zwischen den konservativen Tories und den Liberalen.
Montagabend eskalierte dann die Situation und die Krawallakte griffen auf andere Stadtteile wie Ealing im Westen, oder gar auf andere Städte um: In Birmingham wurde ein Polizeiposten in Brand gesteckt, weitere Randalierer wüteten in Liverpool, Nottingham und Bristol; in Leeds konnte die Situation sofort entschärft werden. Angeblich soll es auch in Manchester zu Randalen an geparkten Autos gekommen sein. In der nordöstlich der Hauptstadt gelegenen Grafschaft Essex soll zur Zeit ein Lager des Supermarktriesen Sainsbury’s in Flammen stehen.
In der Zwischenzeit wurden über 400 Personen festgenommen, die Anzahl der Verletzten wird über BBC nicht kommuniziert. Am Dienstag wurde zudem das erste Todesopfer, das die Unruhen gefordert haben, gemeldet: Ein 26-jähriger erlag im Krankenhaus den Folgen einer Schussverletzung. Zuvor war er schwerstverletzt in einem Auto in Croydon gefunden.
In einer für Dienstag einberufenen Sondersitzung prüft David Cameron offenbar den Einsatz der Militärsondereinheit Cobra im Kampf gegen die Randalierer. Ob das eine gute Lösung ist, werden wir ja sehen. Ich äussere mich nicht darüber, weil ich gemäss meinen eigenen Blog-Richtlinien dazu nicht befugt bin. Am Donnerstag steht für Premier und Parlament eine Sondersitzung in Westminster bevor, in der Cameron in einer Fragestunde Stellung zu den Unruhen nimmt. Cameron hat sich deutlich zu den Unruhen geäussert, genauso der Chef der Metropolitan Police: Wer alt genug für die Gewalt ist, ist auch alt genug um bestraft zu werden.
… nun ist Manchester das Zentrum
In der Nacht auf Mittwoch eskalierte die Situation in Manchester, deren Nachbarstadt Salford und Nottingham, während es in London vergleichsweise ruhig blieb. Cameron hatte für Dienstagnacht das Polizeikontingent von 6000 auf 16’000 Beamte aufgestockt. Während in Manchester ein Bekleidungsgeschäft in Flammen aufging, wurde in Nottingham eine Schule Opfer eines Brandanschlags. Beide Städte waren zuvor nur von kleinen Scharmützeln, die man keineswegs als Unruhen hätte bezeichnen können, betroffen gewesen. Das neue Zentrum soll offenbar Manchester sein, auch hier die Polizei von Greater Manchester klare Worte gefunden. Premier Cameron verlangt den Einsatz von Wasserwerfern und Gummischrot. Gehört die “Dusche” bei uns in der Schweiz zu einer normalen Vergehensweise in einem solchen Fall, wird auf der britischen Hauptinsel zum ersten Mal überhaupt in ihrer Geschichte zum Einsatz kommen. Bisher kamen Wasserwerfer innerhalb des Vereinigten Königreichs ausschliesslich bei den Unruhen in Nordirland zum Einsatz, genauso wie Gummischrot. Weitere kleine Aufstände gab es in den Birminghamer Vorstädten Wolverhampton und West Bromwich, sowie in der mittelenglischen Stadt Leicester. Zur Zeit platzen in London die Gefängnisse aus allen Nähten, im Zuge der Krawallen wurden in der Hauptstadt bisher 805 Menschen in Polizeigewahrsam genommen und 251 weitere gebüsst. 113 weitere kommen in der Greater Manchester-Region um Manchester und Salford hinzu, 50 weitere in Liverpool, zudem wurden in den West Midlands um Birmingham herum bis zu 163 Menschen festgenommen. In Birmingham kamen drei Menschen ums Leben, als sie von einem Auto angefahren wurden. Die drei jungen Männer im Alter zwischen 21 und 31 Jahren wollten ihr Viertel vor den Randalen schützen. Ein 32-jähriger Verdächtiger wurde bereits gefasst.
Das bereits in London gigantische Polizeiaufgebot wird nun auch in den anderen Grossstädten massiv verstärkt, nebst englischen Polizeikräften werden auch solche aus Wales und Schottland hinzugezogen. Bei den Tätern handelte es sich nicht nur ausschliesslich um junge Männer, auch Frauen sind versammelt, oder gar neun- bis elfjährige Kinder.
Gründe
Der Tod des 29-jährigen dient meiner Ansicht nach nur als Vorwand, denn die Andacht zu seinen Ehren verlief ja friedlich. Tottenham ist schon seit Jahrzehnten als sozialer Brennpunkt bekannt, bereits in früheren Zeiten haben bereits schwere Krawallen stattgefunden. Dasselbe gilt für Brixton, das heutzutage sogar vom Durchgangsverkehr gemieden wird. Die Polizei war insofern zuwenig vorbereitet, weil in der Vergangenheit zahlreiche Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation insbesondere in Tottenham realisiert wurden, und dies nicht ohne Erfolg. Doch zurzeit befindet sich die Arbeitslosenrate Grossbritanniens mit knapp 8% auf einem Rekordhoch. Auch Birmingham ist in dieser Hinsicht nicht gerade mit glorreichen Eigenschaften ausgestattet und Liverpool war unter der konservativen Thatcher-Regierung, auf deren Konto auch die Privatisierung der Eisenbahn geht, nach den Schliessungen der Docks die ärmste Stadt Grossbritanniens, gehört aber heute trotz Aufschwung im Dienstleistungssektor immer noch zu den zehn ärmsten Orten der Insel.
In South Tottenham leben 113 verschiedene Volksgruppen, die ingesamt 190 Sprachen sprechen. Der krasse Gegensatz dazu sind Ein-Völker-Stadtteile wie Brixton, wo vorwiegend Jamaicaner leben. In beiden Vierteln sind die Arbeitslosenquote und die Kriminalrate erschreckend hoch. Da ist Konfliktpotenzial vorprogrammiert, und nur ein kleiner Vorwand kann den Hexenkessel zum Sieden bringen.
Doch um tiefer in den Strudel der wahren Hintergründe vorzudringen, müssen wir das Rad der Zeit einige Jährchen zurückdrehen. Bis zum Zweiten Weltkrieg war das Vereinigte Königreich eine grosse Kolonialmacht und hatte den Status einer Weltherrscherin inne. Nach dem Zerfall des Empire Anfangs der 1950er Jahre traten alle ehemaligen Kolonialstaaten – bis auf die USA, welche sich bereits 1777 von der Krone gelöst hatte – und das ehemalige Mutterland selbst in den Commonwealth-Bund bei, damit er Faden doch nicht so schnell reisst. Jeder Commonwealth-Staat hat beispielsweise die Queen als Staatsoberhaupt. Es gab auch Austritte: Jedes Mitgliedsland, das sich zu einer Republik wandelt, wird automatisch aus dem Bund ausgeschlossen, stellt jedoch im Gegenzug den Antrag auf eine Wiederaufnahme, was generell gewährt ist. Das einzige Land, das auf einen Antrag zum Wiedereintritt verzichtet hatte, ist Irland. Jeder Bürger eines Commonwealth-Staates kann sich unter einfacheren Bedingungen in Grossbritannien niederlassen und mit entsprechenden Qualifikationen zu Arbeit gelangen. Dies veranlasste viele Bürger, vor allem aus den westindischen Inseln, aber auch vom Indischen Subkontinent, auf die Insel auszuwandern, in der Hoffnung auf bessere Bedingungen als in der Heimat. Sie wurden bitter enttäuscht. Heute leben sie, weitab der fernen Heimat, weitab von der Familie, wegen fehlenden Qualifikationen ohne Aussicht auf einen anständig bezahlten Job (man bezieht in Grossbritannien mit dem Arbeitslosengeld mehr Einkommen als mit gewissen Jobs), in einem fremden Land, das ihre Existenz zwar wahrnimmt, aber ihnen irgendwie auch keine Chancen bietet. Auch hier ist Konfliktpotential vorhanden, man ist eigentlich nur unter den eigenen Leuten. Das ist etwa nicht rassistisch gemeint, sondern hat sich so eingependelt, denn solche Ein-Völker-Quartiere sind nicht sehr selten in der britischen Hauptstadt.
Transport for London reagierte
Die Londoner Verkehrsgesellschaft, Transport for London (TfL), musste auf Beschluss der Polizei am Montagabend einige Stationen und sogar Strecken schliessen. Die U-Bahn-Station Camden Town und der Bahnhof Barking – sonst Station von zwei Underground- und einer Overground-Linie, wurden ebenso geschlossen wie die Bahnhöfe West Croydon, Ealing Broadway, Harrow-on-the-Hill und Bromley South, und noch viele weitere. Einige sind seit Dienstagmorgen wieder offen. Zudem musste sie die Overgroundstrecke zwischen Barking und Woodgrange Park sowie die Docklands Light Railway zwischen King George V und Woolwich Arsenal – notabene eine Strecke, die unter der Themse hindurchführt, sperren. Bis Dienstag wurden die meisten Stationen wieder geöffnet. Southern, die für den Betrieb von London nach Südengland zuständige Bahngesellschaft, riet generell von Reisen zu Bahnhöfe und Haltestellen in Londons Süden ab. Die Strassenbahn im Süden Londons war zeitweise gar komplett eingestellt. Laut Medienberichten musste die Polizei auch den Bahnhof Hackney Central schliessen, da in unmittelbarer Nähe Randalierer mit diversen Gegenständen auf Polizeiwagen und Busse losgegangen sind. Busse sind ein begehrtes Ziel – nachdem bereits am Sonntag in Tottenham einer ausgebrannt ist, ereilte in Peckham einem weiteren dasselbe Schicksal.
Sportveranstaltungen betroffen
Auch Sportveranstaltungen sind betroffen. Das für Mittwoch im Wembley angesagte Testländerspiel zwischen England und der Niederlande wurde abgesagt. Die Londoner Vereine West Ham, Crystal Palace und Charlton Athletic mussten ihre Heimspiele im Carling Cup mangels Polizeikräfte verschieben. Des Weiteren ist in Birmingham zur Zeit ein Cricketteam im Hotel eingeschlossen. Gefährdet ist ausserdem der für Samstag eingeplante Start in die diesjährige Premier League-Saison. Das Spiel der Tottenham Hotspurs wurde am Dienstag abgesagt. Für die Tottenham Hotspurs hätte als erstes das Heimspiel in der White Hart Lane gegen Everton auf dem Programm gestanden. Ebenfalls zur Debatte stehen die anstehenden Heimspiele der Londoner Vereine Fulham und Queens Park Rangers an, Chelsea und Arsenal treten zunächst auswärts an. In Birmingham wäre dieses Wochenende kein Premier League-Spiel angesagt, doch der lokale Vertreter Aston Villa wäre trotzdem betroffen: Für ihn steht ein Auswärtsspiel bei Fulham an… Dazu soll nach Plan der Vorstadtverein West Bromwich Albion den Titelverteidiger Manchester United empfangen.
In Clapham wird aufgeräumt
Zahlreiche Einwohner von Clapham im London Borough of Lambeth südlich der Themse haben nun selbst das Heft – oder wortwörtlich den Besen – in die Hand genommen. Sie räumten die Trümmer der Randale, bei der unter anderem ein Wohnhaus in Brand gesteckt wurde, eigenhändig weg. Laut Angaben waren bei den Aufräumarbeiten mehr Freiwillige zugegen als Unruhestifter bei der Randale in der Nacht davor. Die Putzaktion hat übrigens Schule gemacht, auch in Hackney oder Battersea zogen mit Putzeimern und Besen bewaffnete Menschen durch die Strassen.
Die Angst vor einer schlechten Darstellung der Stadt in aller Welt ist da, zumal in einem Jahr die Olympischen Sommerspiele 2012 anstehen. Doch London weist auch zahlreiche Schätze aus, wie zum Beispiel der Hyde Park, 30 St Mary Axe, das Canary Wharf-Geschäftsviertel, die Tower Bridge, das London Eye – die Liste wäre beinahe länger als der gesamte Artikel. Trotzdem wird in der nächsten Zeit für zahlreiche Reisewillige die Destination London nicht in Frage kommen, auch wenn das meiner Meinung nach nicht nur ein bisschen, sondern echt total ungerecht ist. Die betroffenen Stadtteile gehören ja nicht unbedingt zu den Touristenzielen und es wird von ihnen auch generell gewarnt, und in der Innenstadt ist eigentlich absolute Sicherheit angesagt.
Links
- Bilder über die Ereignisse in Hackney
- Liste der geschlossenen Bahnhöfe von National Rail
- Bericht der BBC
Tagesschau vom 09.08.2011
Bericht der Tagesschau zu den Krawallen in Grossbritannien