Mit Erwartung legt der dänische Schriftsteller Jussi Adler-Olsen den fünften Roman der Reihe um den Kopenhagener Ermittler Carl Mørck und das Sonderdezernat Q vor. Im Mittelpunkt diesmal: Ein Roma-Junge auf der Flucht, der in einer Verkettung unglücklicher Umstände ein zurückliegendes Verbrechen enttarnt und – ohne es zu wissen – für ordentlich Arbeit im Sonderdezernat Q sorgt.
Spuren bis in den afrikanischen Dschungel
Der 576 Seiten starke Erwartung (ISBN 978-3-423-28020-4) ist bis jetzt der komplexeste Roman der auf zehn Bände ausgelegten Carl Mørck-Reihe. Die wortwörtliche Übersetzung des dänischen Titel lautet Der Marco-Effekt und just um diesen Marco dreht sich die Geschichte. Der Junge ist Teil eines Clans und verbringt seinen Tag mit Betteln – ehe er sich zur Flucht entschliesst – weil den illegalen Handlungen des von seinem Onkel Zola geführten Clans überdrüssig – und in einem Versteck auf die Leiche eines vom Clan ermordeten dänischen Geschäftsmannes namens William Stark, der in Hilfsaktionen im afrikanischen Dschungel involviert war, stösst. Nachdem sich Marco zunächst in falscher Sicherheit gewogen hatte, heisst seine neuste Devise bloss: Überleben. Das Labyrinth der Kopenhagener Innenstadt bietet ihm einen geeigneten Unterschlupf, das wachsame Auge auf bekannte und unbekannte Verfolger darf nicht fehlen, zumal gar afrikanische Auftragskiller hinter ihm her sind. Während des Buches kreuzen sich Marcos Wege immer wieder mit Carl Mørck, dessen Sonderdezernat Q sich nicht nur mit einem neuen und von Carl nicht gemochten Chef rumschlagen muss, sondern die Leiche des besagten William Stark finden will – alles eine Routineübung, hätte er nicht noch mit Gordon einen Jungspund am Hals, der ihm nicht nur auf Geheiss von oben auf den Zahn fühlen soll, sondern sich die Zeit gleich noch mit einem Schäferstündchen mit Carls Mitarbeiterin Rose vertreibt – und durch sein grossmäuliges Auftreten Carls Nerven zunächst strapaziert und schliesslich zerreissen lässt. Doch nicht nur Gordon kristallisiert sich als internes Problem für Carl heraus, ein Chefwechsel im Präsidium macht ihm so sehr zu schaffen, dass er die Flirtereien mit der Sekretärin Lis vergisst und stattdessen mit deren nicht überaus geschätzten Kollegin Frau Sørensen bezüglich des neuen Vorgesetzten Lars Bjørn einer Meinung ist. Bjørn war es auch, der Gordon an Carls Hals hetzte, weil Gordons Vater sein bester Freund ist.
Die Suche nach der Leiche Starks führt eine dunkle Spur in Politik und Finanzwelt zu Tage.
Fazit
Der unlängst verstorbene deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki sagte einst, dass kein Schriftsteller ein gutes Buch schreiben kann, das länger als 300 Seiten ist. Jussi Adler-Olsen widerlegt diese These, auch wenn Erwartung, ähnlich wie der vierte Band, Verachtung nicht mehr so leicht zu lesen ist wie die ersten drei Bänder der Carl Mørck-Reihe. Aber insbesondere die Szenen mit Carl einerseits in dessen Haus, oder besser Chaoten-WG mit dem tetraplegischen Ex-Kollegen Hardy, dem schwulen Kostümedesigner Morten, dessen Lebenspartner und Physiotherapeuten Malik und Carls Stiefsohn Jesper und andererseits unten in den Tiefen des Sonderdezernats Q mit seinem syrischen Assistenten Assad und seiner haar- und modeexperimentierenden Kollegin Rose, die ihn zu Carls Missfallen auch schon mal zu ihrem Assistenten degradiert, aber auch die Zwangsbesuche bei seiner demenzkranken und notgeilen Ex-Schwiegermutter im Pflegeheim sind ein Highlight der Extraklasse, wie schon in den vier Vorgängern sind diese Szenen gewürzt mit sarkastischen Kommentaren und blumig-komischen Beschreibungen der mit wenigen Sympathien von Seiten Carls gesegneten Personen, die den Leser oftmals laut lachen lassen.
Adler-Olsen beweist, dass er zu den besten seines Fachs gehört und zu Recht zu Nordeuropas besten Thriller- und Krimiautoren gehört und in diesem illustren Kreis Kollegen wie Stieg Larsson, Henning Mankell und Håkan Nesser in nichts nachsteht. Auch dank den Fähigkeiten des Übersetzers Hannes Thiess wird Adler-Olsens Humor nahtlos ins Deutsche übertragen. An viele Germanisten sei endlich mal gesagt, dass ein gutes Buch nicht dadurch definiert wird, dass im dreifachem Umfange Sekundärliteratur existiert, die Interpretationen verbreiten, an die der Autor mit Sicherheit niemals gedacht hat, sondern einfach, inwiefern der Leser gefesselt wird.
Quintessenz: Erwartung ist zweifellos eine der besten Neuerscheinungen des Jahres.