Unter grossem medialem Pomp wird morgen der frühere Hauptsitz der inzwischen nicht mehr existenten Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) neben dem Bahnhof Zürich Oerlikon um 60 Meter gegen Westen geschoben, um Platz für zwei weitere Gleise im Bahnhof zu schaffen. Ein weiteres Projekt im Wandel Oerlikons vom Industriequartier zum neuen Boom-Viertel Zürichs.
Verschiebung statt Abriss
Das 123-jährige, aus Backstein gebaute Verwaltungsgebäude der MFO, aus deren Unternehmensteilen Konzerne wie ABB, ADtranz oder OC Oerlikon hervorgingen, muss den im Rahmen der Durchmesserlinie Zürich (DML) zu bauenden neuen Bahnhofsgleisen 7 und 8 des Bahnhofs Oerlikon weichen. Anfänglich sollte das Gebäude abgerissen werden, nach Protesten in der Bevölkerung legte man sich jedoch auf eine wesentlich teurere Verschiebung fest. Der Bau wird nun um 60 Meter in Richtung Westen verschoben, die bisher grösste Hausverschiebung der Schweiz und Europas soll nun am 22. Mai 2012 über die Bühne gehen. Durchschnittlich 1.1 Millimeter pro Sekunde soll sich das Haus westwärts begeben, so dass für die 60 Meter insgesamt rund 15 Stunden vonnöten wären, wettermässige oder bauliche Probleme nicht mit einberechnet. Ausgeführt wird sie von der Firma Iten aus Oberägeri-Morgarten/ZG, ein auf solche Verschiebungen spezialisiertes Unternehmen. Zu ihren Referenzen gehört unter anderem die Verschiebung der Astrid-Kapelle in Küssnacht/SZ oder der Teufelsstein bei Göschenen/UR. Das bisher grösste verschobene Gebäude war die Kirche von Saint-Blaise/NE mit einer Länge von 40 Metern, auch ein Projekt der Firma Iten. Vor einer Woche mussten die Mieter ihre Räumlichkeiten verlassen, genauso wie das im Erdgeschoss eingemietete Lokal Gleis 9. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde festgezurrt oder ausgeräumt. Während der Translokation dürfen sich aus Sicherheitsgründen keine Personen im Objekt aufhalten. Bis zum Endbezug in drei Wochen wird beispielsweise das Gleis 9 in einem provisorischen Festzelt neben der Baustelle geführt. Die neue Eigentümerin des Gebäudes, die Swiss Prime Site AG, hat für die Verschiebung Kosten von elf Millionen Franken veranschlagt. Die Rechtsnachfolgerin der MFO und somit Grundstückseigentüermin des bisherigen Standortes, die ABB, wollte das Gebäude abreissen, da die Wirtschaftlichkeit fehle. Zudem verlangte sie von den SBB Geld, woraufhin diese erwiderte, vertragsgemäss müsse die ABB das Grundstück abtreten. Die Swiss Prime Site wiederum bot an, das Gebäude auf ihr Grundstück zu verschieben und die Kosten zu übernehmen, obwohl es so relativ nah an den Bürokomplex Cityport heranrückt.
Die Hausverschiebung als Medienereignis
Normalerweise gehen solch beeindruckende Vorgänge abseits des Weltgeschehens und abseits des Blickwinkels der Menschen über die Bühne. Alles muss millimetergenau geplant werden, das Untergeschoss vom Erdgeschoss getrennt und mit Schiebevorrichtungen gesehen werden. Im Falle des 6200 Tonnen schweren MFO-Gebäudes ist es nun anders. Ihm gebührt eine Aufmerksamkeit, die wahrhaftig ihresgleichen sucht: Fast schon übertrieben mutet die Live-Übertragung der Translokation im Schweizer Fernsehen samt Spezialsendung tags darauf an. Unter dem schwermütigen Namen Ein Haus geht auf Reisen verkommt diese Bauetappe zum medialen Grossereignis. Dienstags verfolgt ein Team von Schweiz aktuell die Translokation ab 10:30 Uhr, am Mittwoch folgt ab 06:30 eine weitere Spezialsendung, jeweils auf SF zwei. Ein Versuch, diese Methode salonfähig zu machen. Wer den Vorgang nicht via TV-Bildschirm verfolgen kann, darf unter anderem auf Twitter zurückgreifen – das SF hat einen eigenen Kanal gestartet.
Bereits erfolgte Bauvorleistungen
Damit eine solche Versetzung überhaupt in Angriff genommen werden kann, sind Vorleistungen notwendig. Einerseits wurde entlang der Verschiebetrasse eine Baugrube errichtet, welche auch den bisherigen und den neuen Standort umfassen und das bisherige Gebäude bis auf die Fundamente freilegten. Anschliessend kann der Schiebevorgang in Angriff genommen werden: Zunächst werden im Untergeschoss schrittweise die Tragelemente des Fundaments entfernt und durch Stahlstützen ersetzt. Nach der vollständigen Entfernung dieser werden die Schienen und die Rollen, welche der Bewegung dienen, eingebaut und anschliessend die Stahlstützen wieder entfernt. Nach der Verschiebung werden die Schubelemente wieder entfernt, die Bodenplatte wieder anbetoniert und die Baugruben aufgefüllt.
Erläuterungsvideo der Iten Bau zur Translokation des MFO-Gebäudes
Oerlikon im Wandel der Zeit
Ausschlaggebend für den Verzicht auf einen Abriss des Gebäudes war das Argument, dass das MFO-Verwaltungsgebäude als letzter Zeitzeuge der industriellen Vergangenheit von Zürichs Norden gilt. In dieser Epoche stand der Begriff Oerlikon nicht nur der Maschinenfabrik wegen für Industrie. Auch andere Unternehmen wie Oerlikon-Bührle (die heutige OC Oerlikon – aber mit Sitz in Pfäffikon/SZ), ABB oder Bombardier Transportation hatten oder haben hier produziert. In den letzten Jahrzehnten erlangten spekulative Aktionäre die Oberhand, Industriebetriebe gingen ein oder verlagerten ihre Produktionen in kostengünstigere Gefilde. Wie an zahlreichen anderen Orten der Schweiz (Nova Brunnen, IntegraSquare Wallisellen, Sihlcity Zürich) wurden oder werden brachliegende Industrieflächen mit neuen Trendquartieren bebaut. In Zürich-Nord (Oerlikon, Seebach, Affoltern) wurde diese Entwicklung als Paradebeispiel vollzogen. Das MFO-Gelände wurde teilweise in eine Parkanlage umgewandelt, andererseits mit Büro-, Wohn- und Dienstleistungsgebäuden überbaut. Schon seit geraumer Zeit hat sich Oerlikon als zweites Stadtzentrum Zürichs neben dem bewährten Zentrum zwischen Hauptbahnhof und Seeufer etabliert. Mit insgesamt drei Einkaufszentren geht beispielsweise auch hier auch die Shopping-Freude nicht verloren, zudem hat die Universität Zürichs im Norden eine Aussenstelle errichtet. Auch der Bahnhof Oerlikon nimmt innerhalb der Stadt eine tragende Rolle ein – er dient nicht nur der S-Bahn Zürich, sondern auch stündlich zwei Fernverkehrslinien, um zahlreichen Pendlern vor allem aus der Zentralschweiz und dem Aargau das Umsteigen im chronisch überlasteten Knoten Zürich HB zu ersparen.
Das Projekt der Durchmesserlinie
Die Hausverschiebung geschieht im Namen des Baus der Durchmesserlinie Zürich. Diese beinhaltet eine neue Eisenbahnstrecke zwischen Zürich Altstetten und Zürich Oerlikon samt neuem unterirdischem Durchgangsbahnhof im Zürcher Hauptbahnhof. Nebst diesem sind auch weitere Bauwerke vonnöten: Einerseits der Weinbergtunnel zwischen dem HB und Oerlikon, andererseits die Letzigraben- und die Kohlendreieckbrücke in Richtung Altstetten zur niveaufreien Ausfädelung der Züge. Die DML soll sowohl dem S-Bahn- als auch dem Fernverkehr dienen und wird bei ihrer etappenweisen Eröffnung 2013 (HB-Oerlikon für Züge aus Richtung Thalwil) und 2015 (Züge aus Richtung Altstetten) das Verkehrsangebot in der Agglomeration Zürich markant verändern. Gewisse Regionen wie das Einzugsgebiet des Bahnhofs Zürich-Wipkingen oder die Obermarch im Kanton Schwyz müssen des neuen Angebots und den Kapazitäten wegen zwar Kompromisse eingehen, doch die positiven Folgen werden überwiegen. So entstehen neu durchgehende S-Bahn-Linien von Zug nach Weinfelden/TG oder Schaffhausen. Das Nadelöhr Stadelhofen wird nachhaltig entlastet und somit weniger störungsanfällig.
Links
Schweiz aktuell vom 16.05.2012
Bericht von Schweiz aktuell über die letzten Vorbereitungen zur Züglete
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Die ersten 20 Meter der Verschiebung im Zeitraffer (Quelle SF Videoportal)